Der Winter im Sommer

Martin Schulze Wessel erinnert an den »Prager Frühling« und dessen vorzeitiges Ende

  • Reiner Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor einem halben Jahrhundert propagierte und realisierte ansatzweise die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei gemeinsam mit breiten Kreisen der Bevölkerung den »Prager Frühling«, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Der Historiker Martin Schulze Wessel hat sich diesem brisanten Kapitel Geschichte intensiv gewidmet. Er analysiert das Werden dieses Frühlings, der in einem blutigen Winter endete.

Obzwar der Autor den tschechoslowakischen Aufbruch 1968 nicht als Sackgasse oder Farce begreift, sondern als markantes Beispiel für einen Erneuerungsprozess in einem sozialistischen Land, schlussfolgert er am Ende der Einleitung, dass jener Frühling heute kaum noch als Ereignis der Inspiration gewürdigt werde. Weswegen es sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei keine größeren Staatsfeiern dazu zu gab.

Als Literaturwissenschaftler interessierte mich besonders, welche Wechselwirkungen mit Kunst und Literatur sich im Prager Frühling ergaben. Es beginnt mit den persönlichen Reminiszenzen von Heinrich Böll, der am 21. August 1968 just in Prag weilte, um ein Treffen der »Gruppe 47« vorzubereiten, und er resümierte derb, dass sich Europa im Kriegszustand befinde. Es folgen Hinweise zum weltbekannten Text und der Verfilmung der »Unerträglichen Leichtigkeit des Seins« von Milan Kundera, später dann durchaus unterschiedliche Positionen und Einflussnahmen auf die Reformbestrebungen durch Jan Procházka, Bohumil Hrabal, Václav Havel und Ludvík Vaculík sowie die ausführliche Darstellung der Erlebnisse und Aktionen eines der Wortführer des Prager Frühlings, Eduard Goldstücker. Dass der historische Kontext des Prager Frühlings bis zu den Slánský-Prozessen der 50er Jahre zurückreichte, in denen frühere Führungskader der kommunistischen Partei unter Inanspruchnahme antisemitischer Rhetorik abgeurteilt wurden, erfuhr man schon in den 2009 editierten Gesprächen zwischen Eduard Schreiber und Eduard Goldstücker (»Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts«, Arco-Verlag Wuppertal).

Martin Schulze Wessel sieht zwei wesentliche Entwicklungslinien und Bestandteile der Theorie und Praxis des Prager Frühlings, die immer wieder die Diskussion gewichteten: eine Vision von einer Humanisierung der sozialistischen Gesellschaft einerseits und eine Auseinandersetzung und sinnfällige Aufarbeitung jener von Prozessen und Justizverbrechen geschwängerten Vergangenheit andererseits. Dass dabei der slowakische Jude Goldstücker immer wieder im Fokus steht, ist nicht verwunderlich, denn an seiner Person entzündete sich mehrfach die öffentliche Diskussion, nicht nur, weil von der Kafka-Konferenz 1963 in Liblice, die von Goldstücker initiiert worden war, der »Vorfrühling« ausgelöst wurde. Goldstückers Thesen, Kafka sei als deutscher Jude zu Unrecht verunglimpft worden, seine Texte hingegen seien noch heute zeitgemäß, aktuell und gültig sowohl für kapitalistische als auch für sozialistische Gegebenheiten, einschließlich der in beiden Gesellschaftsordnungen möglichen Entfremdung des Menschen vom Arbeitsprodukt und vom Menschen, wurden heftig diskutiert und sofort von dogmatischen Ideologen in den sozialistischen Bruderländern als Beginn einer Konterrevolution gebrandmarkt.

Aber Schulze Wessel verweist zudem eindringlich auf die Zusammenhänge von wissenschaftlich-technischen (Richta), marktwirtschaftlichen (Šik) und pluralistischen (Mlynař, Pithart) Tendenzen im Erneuerungsprozess, der symbolisch stets mit dem Namen Alexander Dubček verbunden wird. Akribisch zeichnet das Buch die Stationen des Prager Frühlings nach, der im Oktober 1967 manifest wurde, eine breite öffentliche Debatte und Anteilnahme auslöste - und in Aktionsprogramme mündete, die zu harten Konflikten zwischen den Parteiführungen der Staaten des Warschauer Paktes führten und zum Vorwurf einer beginnenden Konterrevolution.

Das Kapitel »Winter im Sommer« sichtet den Wirrwarr, der durch die Aufhebung der Pressezensur entfacht worden war, widmet sich der Reformbewegung der »2000 Worte« und dem Gegenmanifest der »1000 Worte«, in dem bereits eine Drohung mit einem blutigen Ende des Aufbruchs durchscheint. Detailliert erfährt der Leser, wie bis zum Treffen der Parteiführer der sozialistischen Länder vom 29. Juli bis 1. August 1968 in Čierna nad Tisou - das Pavel Kohout noch mit einem Manifest befeuert hatte, in dem er die Einheit von Partei und Volk beschwor - die Hoffnungen der Reformer wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.

Der Prager Frühling bleibt als Fanal in Erinnerung, das letztlich von Panzern niedergewalzt wurde.

Als ich 1993 meine Tätigkeit an der Westböhmischen Universität Pilsen aufnahm, hatte ich die Gelegenheit, Eduard Goldstücker in einem Vortrag über seinen Lieblingsautor Kafka zu erleben. Und er antwortete auf die Frage, wie er sich nach dem zweiten Exil in England nun nach der »Samtenen Revolution« in der Heimat fühle: wie in einem dritten Exil.

Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Philipp Reclam, jun. Verlag, 323 S., geb., 28 €.

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