Leben im Viertel der toten Kosmonauten

Eine Schule in Fürstenwalde: Warum auch der Namensgeber stolz auf seine »Nachkommen« sein kann. Von René Heilig

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Sigmund-Jähn-Schule in Fürstenwalde ist seit ein paar Wochen themengerecht gestaltet.
Die Sigmund-Jähn-Schule in Fürstenwalde ist seit ein paar Wochen themengerecht gestaltet.

Tot, alles und alle sind tot. Wie muss das erst in grauen Jahreszeiten wirken?! Zum Glück ist jetzt Sommer. Das Grün der Straßenbäume, die tapfer der großen Trockenheit trotzen, verdecken einst so begehrten Erfolge der Einheit von sozialistischer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nicht wenige der fünfgeschossigen »Neubau«blocks hat man in Fürstenwalde bereits vor zehn Jahren abgerissen. Wie anderenorts im Osten war der Lehrstand groß. Deshalb initiierte man auch in Brandenburg einen »Stadtumbau Ost« und verschwendete Steuergeld. Doch der Eindruck bleibt: »Platte«, ringsum nur »Platte«. Gesehen wie gebaut. Nicht einmal gedämmt und verputzt. Bei der Bundestagswahl 2017 haben 22,8 Prozent der Berechtigten im Stimmbezirk Fürstenwalde/Spree die AfD gewählt.

So tot wie dieser Anblick von Wohnblocks sind die, deren Namen auf den Straßenschildern stehen: Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall - abgestürzt im März 1968. Wladimir Komarow testete ein Jahr zuvor eine neue sowjetische Raumkapsel namens »Sojus«. Sie brachte ihn um. Georgi Dobrowolski erstickte im Juni 1971 gemeinsam mit seinen Kameraden Wladislaw Wolkow und Wiktor Pazajew an Bord so eines Raumschiffes. Wer vor einigen Jahren noch in dem ohnehin von der Wende nicht belohnten Ort mit seinen gerade noch 30 000 Einwohnern Siechtum beschreiben wollte, musste sich nur im sogenannten Kosmonautenviertel umschauen. Ein typisches »Hartz-IV-Aufzuchtgebiet«, stöhnen Alteingesessene. Und mittendrin steht diese Schule. Vor der stieg Ines Tesch aus dem Auto, denn es war »ihre« Schule, sie wurde die neue Rektorin. Drei Jahre ist das her.

Angeblich hatte man ihr bei der Bewerbung ums Direktorenamt gesagt, dass sie eine »Problemschule« übernehmen soll. Ja und? Die junge Frau kam aus Berlin, hatte an Schulen in Marzahn und Neukölln gearbeitet. Das wollen wir doch mal sehen …! Doch was sie in den folgenden Monaten in Fürstenwalde sah und erlebte, hätte andere vermutlich umgehend in die Flucht geschlagen. Sie musste nicht nur feststellen, dass Zeit und Zuwendungen an der einstigen, 1979 eingeweihten Polytechnischen Oberschule der DDR vorbeigegangen waren. Auch die Kinder machten einen weiten Bogen um die »Assi-Schule«. Eltern, die es gut mit ihren Kleinen meinten, suchten sogar weit entfernte Schulen für sie aus.

Bisweilen kommt Veränderung ebenfalls von weit her. Ab Herbst 2015 strandeten Flüchtlinge auch in Fürstenwalde. Es gab ein Lager für die Geflohenen und zahlreiche Kinder, die Bildung und Beschäftigung brauchten. Welche Schule hat Platz? Klar, die von der Tesch. Täglich gab es so neue Anmeldungen. Und mit den neuen Schülern neue Probleme. Doch: »Wir schaffen das«, ist kein Spruch, auf den Kanzler Merkel das Copyright hat. Tesch und ihre Kolleginnen und Kollegen haben sich »reingehängt«. Auf einer Lehrerkonferenz vor knapp zwei Jahren beschlossen sie ein Leitbild. Titel: »Miteinander lernen, entfalten - und begeistern«. In dem Papier, das allerlei moralische Ge- dafür aber wenige Verbote enthält, liest man ein Zitat von Thomas Jeffersen, dem dritten Präsidenten der USA: »Wer die richtige Einstellung hat, den kann nichts und niemand aufhalten. Wer die falsche Einstellung hat, dem kann nichts und niemand helfen.«

Es gibt viele Geschichten, die man über Rektorin Tesch, ihre derzeit 22 Kolleginnen und Kollegen sowie deren Schülerinnen und Schüler der Fürstenwalder Ganztagsschule, die eine lesende, eine bewegte und eine ist, die am internationalen Wettbewerb Cinema en Curs teilnimmt, erzählen müsste. Eine ist die von Hend Al Khabbaz. Die junge Frau ist aus Syrien geflohen. Erst nach Beirut, dann in die Türkei, von dort mit dem Boot nach Griechenland, weiter zu Fuß über die sogenannte Balkan-Route. Das war 2015. Einst hatte sie in Homs englische Literatur studiert und als Lehrerin gearbeitet. Nun unterrichtet sie in Teschs Team Deutsch als Zweitsprache, Mathematik und natürlich arabische Sprache für die, die es wollen, um den Kontakt zur heimischen Kultur zu halten.

Möglich wurde die Anstellung, nachdem die Potsdamer Universität einen Auf- und Hilferuf in Flüchtlingslager gesandt hatte: Wer eine pädagogische Ausbildung habe, solle sich melden. 700 bewarben sich für die 15 Fortbildungsplätze im »Refugee Teachers Program«. Frau Al Khabbaz hatte Glück und weil sie bereits ein Praktikum in der Fürstenwalder Schule absolviert hatte, kämpfte deren Chefin so lange, bis die nun als Lehrerin in Deutschland zugelassene Frau wieder »heimkehren« durfte. Nicht zur Freude aller. Via Facebook mokierte sich ein Vater: »Sollte es so kommen, dass die Lehrerin ein Kopftuch trägt, dann bleiben meine Kinder zu Hause.« Solche Anfeindungen und quälende Einsamkeit überstand die junge Lehrerin aus Syrien. Kollegen standen ihr bei.

Andere Geschichten, die diese Fürstenwalder Schule so besonders machen, lassen sich erahnen, wenn man die im Treppenhaus aufgehängten Einschulungsfotos betrachtet und die darauf vermerkten Namen der Schüler liest. In dreizehn Sprachen kann man das Wort »Willkommen« im Schulgebäude lesen. Der Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunft ist zeitweise von 14 Prozent auf 44 Prozent gestiegen. Gegenwärtig haben 90 der rund 300 Schüler einen Migrationshintergrund. Elf der 24 besten Zeugnisse gingen im vergangenen Schuljahr an nichtdeutsche Kinder. Klingt problemlos. Ist es aber nicht. Das grundsätzlich gute Miteinander funktioniert, weil die soziale wie die ethnische Herkunft der Lernenden - wie Tesch sagt - total egal ist. Wunschlos sind die Pädagogen dennoch nicht. Sie hoffen auf bessere Möbel in den Klassenzimmern und den Foyers, wollen mehr Kuschelecken in der Bibliothek, um dem Anspruch, eine »lesende Schule« zu sein, noch besser zu entsprechen. Auch eine bessere Lösung für den Hort sollte im Interesse der Ganztagsbetreuung gefunden werden. Und die uralten Fliesen … Na ja, Tesch ist - wie es scheint - Perfektionistin.

Wer heute die einstige »Assi-Schule« von außen betrachtet, ist angetan von den frischen Farben. Wer das Gebäude betritt, atmet frei. Hell und freundlich ist sie, von den Decken herab hängen in den zweiten Klassen gebastelte Planetensysteme, die Kinder der bisherigen ersten Klassen haben Sonne, Erde, Saturn & Co mit Knete gestaltet. In einer Ecke hängt ein Model der Internationalen Raumstation (ISS), daneben wird über den aktuellen Aufenthalt von Alexander Gerst in der Station informiert. Und wenn »Astro-Alex« einen seiner mediale Auftritte zur rechten Zeit hat, dann ist das für die älteren Schüler ein »Muss«.

Martina Jänicke, die Konrektorin, führt sichtlich zufrieden durch die Schule, vorbei an allerlei Bildtafeln, die sie über diverse Schulfeste gestaltet hat. Dann schließt sie einen besonderen Raum auf. Hier ist allerlei ausgestellt, das der Namensgeber der Schule überlassen hat. Wenn Jänicke, die sich selbst zum »pädagogischen Urgestein« rechnet, über den Mann, dessen Namen die Schule sich nach kurzer Nachwende-Abstinenz wieder geholt hat, spricht, leuchten die Augen. Er sei ein so offener, bescheidener, freundlicher und engagierter Mann, weiß sie zu berichten und freut sich - wie andere aus dem Kollegium - auf ein erneutes Treffen mit ihm. In Morgenröte-Rautenkranz, in ein paar Tagen. Der erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, hat sie eingeladen.

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