Auf der Suche nach einem Ort, an dem sich in Frieden leben ließe
Sasha Waltz & Guests gastierten mit der Choreografie »Exodos« im Radialsystem
Es sollte der ganz große Wurf werden, ein Stück über Migration und Flucht, vor sich selbst oder der Welt, vor äußerer Verfolgung oder dem inneren Bedrängtsein. »Exodos« nennt Sasha Waltz die Kreation zum 25-jährigen Bestehen ihrer Compagnie, setzt damit die Recherchen des Vorgängerprojekts »Kreatur« fort und erweitert die Uraufführung auf rund 165 pausenfreie Minuten. Mit einer Fülle an Bildern und Bezügen warten sie und ihre 26 Tänzer auf und bespielen beide Säle im Radialsystem, ehe sich die Aktion auf einen Raum konzentriert.
Beim griechischen Begriff Exodos denkt man zuerst an die biblische Flucht der Stämme Israels aus Ägypten, ihren Gang durch das sich teilende Rote Meer. Eigentlich bezeichnet das Wort den Abzug der Spieler aus dem antiken Drama, es lässt sich aber auch auf die Migranten von heute beziehen, auf deren oft tödliche Odyssee, auf die sie sich auf der Suche nach einer lebenswerten Existenz in einem fremden Land begeben. Viel Stoff also und viele mögliche Assoziationen.
Zu beiden Seiten eines Glaskastens betritt man den ersten Raum und fühlt sich wie in einem Panoptikum. Enge Vitrinen auf Podesten bergen wachsbleiche starre Gestalten, aus dem Nebel durch Oberlicht herausgehoben, ihrem Gefängnis hilflos ausgeliefert. Im zweiten Raum, über eine Schleuse verbunden, lässt ein Trio einen Tänzer per Seilzug immer wieder schweben: Jesus am Kreuz oder römischer Gladiator in barocker Pose; rotgewandete Frauen zieht er an Arm oder Bein mit sich. Ein Deckenleuchter erhellt matt die Szene, ein riesiges Gebläse windet. In Raum 1 haben derweil die Wesen ihren transparenten Kerker verlassen, helfen einander, mischen sich unter die umstehenden Zuschauer und beziehen sie - von Sasha Waltz ist das so beabsichtigt - in das Geschehen ein. Holzstäbe tragen einzelne Tänzer wie Streben des Kreuzes, die Tänzer balancieren darauf, der Kopf des einen ist von einem Seil umwickelt. Autoverkehrsgeräusche und weiteren bearbeiteten Live-Lärm legt das Soundwalk Collective als Klangcollage darüber.
Eine Tänzerin schleppt an Fäden Schuhe hinter sich her, ein Waschbecken rollt herein, Rundspiegel tauchen auf. Überall ereignet sich etwas, Zuschauertrauben bilden sich, jeder wählt, was er sehen möchte, Zufall komponiert das Stück. Mit Kreide umranden Akteure den Standort der Zuschauer, als Momentaufnahme auf der Spur durch den Abend; eine Gliederpuppe wird in einen der Glasarreste hineindrapiert. Als nur eine ferne Lichtquelle aufleuchtet, drängen alle, Spieler wie Publikum, dorthin, werden eins. Eine Prozession durch aus Leibern geformte Tore formiert sich, für alle, die mitmachen möchten. Selbst eine Radlerin quetscht sich durch. Dann bilden die Akteure einen Belag aus menschlichen Steinen, über die geschritten wird, ehe in den zwölf Paaren jeder seinen Partner traktiert, dann fürsorglich trägt. Temporäre Skulpturen entstehen so, die sich auflösen. Tänzerisch dynamisch wirkt dies Räderwerk in den Raum hinein, wird zum Rangeln und Seilziehen zweier Parteien, dann folgt Sprung über ein viele Meter langes Seil.
Inzwischen hat sich das Geschehen in Raum 1 verlagert. Der Glaskasten des Eingangs rückt als Auffanglager ins Zentrum, wird umrundet, erklommen, durch eine Öffnung betreten; Sentas Ballade vom Fliegenden Holländer, auch solch ein zur Flucht Verdammter, kämpft, live gesungen, gegen den Gebläselaut an. In Folkloreformen finden sich da die Menschen, Kette, Mühle, Walzer, skandieren immer wieder: »Utopia!« Sie meinen damit wohl jenen Ort, an dem sich in dauerhaftem Frieden leben ließe. Ein Mann, ein Flüchtling vielleicht, wird eingesperrt und hämmert gegen die Wände, eine Frau reinigt ungerührt die Wände von seinen Abdrücken. Wummernde Beats leiten dann unter Lichtgewitter einen Discotaumel à la Ballermann ein, dem sich Zuschauer anschließen. In der Umarmung vorm Untergang endet der Exzess, die Frauen zerren amazonenhaft ihre gefesselten Männer durch den Raum. Folien, wie sie bereits in »Kreatur« verwendet wurden, legt man zum Kreis, darin sich unter Bodendampf zwei mögliche Pythias verhakeln. Gerollt werden die Folien zu menschlichen Ersatzteilen, Arm oder Bein, ragen wie fragile Gestänge auf. Ein Mann schwingt die weiße Fahne, ist es die der Kapitulation? Dann aber doch noch das gute Ende. Koital verklammert hockt ein Paar im Kasten, wird daraus vertrieben, singt ein italienisches Canzone und das Chanson von den Parole, den leeren Worten, und verlässt plaudernd den dunkelnden Kampfort.
Der beabsichtigte ganz große Wurf ist das Welterklärungsepos »Exodos« eher nicht geworden, ein eindringlicher Bilderbogen humanen Fehlverhaltens aber wohl, aus dem jeder sich sein persönliches Stück zusammenpuzzeln kann.
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