- Kommentare
- Verfassungsprozess in Kuba
Antikolonialer Konsens statt KPdSU
Harald Neuber meint, dass Kuba seine Verfassung und sein politisches System ohne Machtwechsel reformieren kann
Mit der laufenden Verfassungsreform zieht ein Stück Modernität in Kuba ein. Die geltende Konstitution ist gut 40 Jahre alt und noch in einem erheblichen Maße von der damaligen Weltlage geprägt: der Blockkonfrontation sowie Interventionen und Terrorbedrohung aus den USA. Sie ist damit staatsrechtlicher Ausdruck eines Kriegssozialismus, der das revolutionäre Kuba unter Fidel Castro über Jahrzehnte hinweg maßgeblich geprägt hat.
Einiges davon soll sich nun ändern und die kubanische Regierung setzt viel daran, die demokratische Legitimation dieses Reformprozesses zu bekräftigen. In voraussichtlich 35 000 Versammlungen in Betrieben, Gewerkschaftsniederlassungen, Universitäten und in den Stadtteilen wird der derzeitige Entwurf einer Reformverfassung diskutiert. Voraussichtlich im April kommenden Jahres haben die Kubanerinnen und Kubaner in einem Referendum das letzte Wort. Es ist das zweite Mal in der jüngeren Geschichte des kubanischen Sozialismus, dass eine staatlich gelenkte Basisdebatte über die grundlegende Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Systems entscheidet, nachdem es vor wenigen Jahren über die sogenannten wirtschaftspolitischen Leitlinien schon einmal eine solche Aussprache gegeben hat.
Die Herausforderungen sind enorm. Das doppelte Währungssystem und eine schleichende Restauration kapitalistischer Strukturen machen der kubanischen Gesellschaft schwer zu schaffen und bergen erhebliche soziale Sprengkraft. Mit der Verfassungsreform geht es auch darum, diese real existierende Rückkehr des Kapitalismus im Rahmen einer sozialistischen Staatsordnung unter Kontrolle zu bringen.
Das heißt konkret: Wenn eine Wohnung in der Hauptstadt in Havanna de jure für einige Zehntausend kubanischer Peso den Besitzer wechselt, de facto aber ein Kaufpreis von mehreren Hunderttausend US-Dollar bezahlt wird, nutzt es dem Staat nichts, diese allgemein bekannte Entwicklung zu ignorieren. Er muss sie anerkennen, um diese realen Preise besteuern und den - zumindest in den urbanen Zentren - deutlich erkennbaren Gentrifizierungstendenzen entgegenwirken zu können.
Gleiches gilt für die Abwanderung von Lehrern und Ärzten in die Privatwirtschaft oder das Ausland. Auch wenn der kubanische Staat zwei Drittel seiner Einnahmen in die Sozialsysteme steckt, wird das international anerkannte Niveau so auf Dauer nicht haltbar sein. Auch die Dezentralisierung der Macht, die aus der 1959er Revolution entstanden ist, war überfällig und wird mit dem unabwendbaren Generationenwechsel in der politischen Führung einhergehen.
Der Reformstau bestimmt die kubanische Gesellschaft seit Jahren. Die Verfassungsreform ist die Antwort auf diese Bewegung von unten, die sich vor allem in Kunst und Kultur gebildet hat, wo neben der Wiederkehr rassistischer Stereotype, sexuelle Rechte und kulturelle Freiheiten mit zunehmender Vehemenz eingefordert wurden. Der kubanischen Führung ist es bislang gelungen, diese Kritik aufzugreifen und den Dialog mit der Mehrheit der Kritiker zu führen. Freilich »innerhalb der Revolution«, wie dies der 2016 verstorbene Revolutionsführer Fidel Castro 1961 in seinem »Worten an die Intellektuellen« formulierte.
Für westliche Regierungen und Medien zählt die innerkubanische Demokratie daher wenig bis gar nicht. Solange die Herrschaft der regierenden Kommunistischen Partei Kubas (PCC) nicht angetastet wird, bleibt Kuba für sie eine »Diktatur«, auch, weil sie die Macht der PCC mit Ostblockparteien gleichsetzen. Doch die KP Kubas kann sich auch fast 60 Jahre nach der Revolution auf einen antikolonialen Konsens stützen, der wenig mit der KPdSU, aber viel mit der Revolutionären Kubanischen Partei des Nationalhelden José Martí gemein hat. Der im Westen vorherrschende Kuba-Diskurs - auch über die laufende Verfassungsreform - ist daher nicht nur in einem hohen Maße von Unkenntnis geprägt, sondern auch von einer Doppelmoral, die dem Vormarsch protofaschistischer Kräfte in Lateinamerika mit weit weniger Ablehnung begegnet.
Kuba wird auch nach der Ära Castro, mit einer verjüngten Führung und mit neuer Verfassung in den Ländern des Trikont weiterhin als Beispiel für eine eigenständige Entwicklung geachtet werden. Die Linke im Westen täte gut daran, den Kampf ihrer Oligarchien gegen antikoloniale Kräfte ins Visier zu nehmen, um die Widersprüche zu benennen. Um sich sozusagen auf der Basis etablierter Werte zu erneuern.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.