Gibt es ein Leben nach der Telenovela?

Die Serie »Samantha!« schafft es, die Probleme der brasilianischen Gegenwart in eine drollige Sitcom zu packen

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Aus Brasilien dringen eigentlich nur vier Themenkomplexe nach Europa: Fußball, Krise, Korruption und Urwaldrodung. Wobei - gab es nicht dieses drollige TV-Format namens Telenovela, das Anfang des Jahrhunderts weltweit exportiert wurde? Der Urschleim billigen Herzschmerzfernsehens mit Suchtpotenzial war auch hierzulande mal TV-relevant. Abgesehen von »Sturm der Liebe« und »Rote Rosen« ist das Genre jedoch längst zur Zitatesammlung seiner selbst verkommen.

Kein Wunder. Telenovelas sind unfreiwillig komische Witzformate. Allenfalls zur Fremdscham des Feuilletons tauglich, verdienen sie deshalb nicht den kleinsten Augenblick der heillos überstrapazierten Aufmerksamkeit des Mehrheitspublikums. Es sei denn, man kombiniert sie so mit den vier erstgenannten Themenkomplexen des fünftbevölkerungsreichsten Landes der Erde, dass daraus eine Sitcom mit sozialpolitischer Komponente wird. Wie Samantha!

So heißt die Hauptfigur der gleichnamigen Eigenproduktion, mit der Netflix das ganze Dilemma der multimedialen Gegenwart in die Form einer Unterhaltungsserie bringt. Samantha mit dem Ausrufezeichen ist nämlich ein gealterter Ex-Kinderstar der heillos überdrehten Frühphase hyperkommerziellen Privatfernsehens, für den das Medium von heute partout keinen Platz mehr hat. Weil sie mit Anfang 40 - unerhört! - erste Fältchen und Fettpolster ansetzt, fliegt sie zu Beginn der ersten Staffel aus einer trashigen Tingeltangel-Show und kriegt zu Hause auch noch Besuch von ihrem Ex-Mann, der vor einer wilden Meute Klatschreporter flieht.

Dieser Doidoi war ein gefeierter Fußballstar, der zwölf Jahre im Knast saß und sich nun frisch haftentlassen an die Mutter seiner zwei zuckersüßen, aber neunmalklugen Kinder wanzt, um wieder Fuß zu fassen - was dem ausgemachten Hallodri selbstredend herzlich misslingt. An dieser Handlungskreuzung nun könnte »Samantha!« in zwei entgegengesetzte Richtungen abbiegen, die beide eher Schulterzucken als Zustimmung nach sich zögen: Ein bitteres Sozialdrama mit tougher Kämpferin am Rande der Verzweiflung, die hierzulande von Veronica Ferres gespielt worden wäre. Oder ein heiteres Sozialdrama mit ulkigem Loser, den hierzulande womöglich Bastian Pastewka verkörpern würde.

Showrunner Felipe Braga jedoch hat sich für den Mittelweg entschieden, was nicht zuletzt wegen der Hauptdarsteller sehenswert ist. Ohne das bleierne Pathos deutscher Serien, vor allem ohne deren seifigen Enthusiasmus, dürfen Emanuelle Araújo und Douglas Silva die fünf brasilianischen Kernthemenkomplexe mit hinreißender Beiläufigkeit verknüpfen und dennoch oft brüllend komisch interagieren. Samantha nämlich schafft es im Fahrwasser des gefallenen Fußballprofis endlich wieder in die Schlagzeilen und beginnt den Tiger der entfesselten Erregungsgesellschaft erstmals eigenhändig zu reiten, statt selbst geritten zu werden.

Doch dass sie fortan für alles, was Geld bringt, klaglos Reklame macht, und immer da, wo es Ruhm verspricht, mehr oder weniger bekleidet vor die Kamera springt, wird subtil mit der lokalen Cholerapest aus Korruption, Krise und Urwaldrodung verlinkt. »Frühstück, Hausaufgaben, Schule«, sagt Samantha eingangs zu ihrem Mann, als sie morgens eine Dumpfbackenshow moderieren soll. »Ich bin Vater, kein Kindermädchen«, antwortet der sympathische Taugenichts und zeigt damit in einem Satz, was schiefläuft in Brasilien. Ein Satz in einer Art von Sitcom-Telenovela, deren federleichter Tiefgang aus deutscher Herstellung undenkbar ist.

Verfügbar auf Netflix

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