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Die Linke braucht keine Caudillos
Alberto Acosta über Rechtsruck, Fehler der Linken und ihren Neuanfang in Lateinamerika
Im September feiert Ecuadors neue Verfassung zehn Jahre Bestehen. Welche Bilanz ziehen Sie?
Wir haben seit zehn Jahren eine Verfassung, die viele Erwartungen geweckt hat - sowohl in ihrem Inhalt als auch wegen der Art und Weise ihrer Ausarbeitung. Seit 1830 haben wir 21 Verfassungen gehabt. Alle wurden vom traditionellen System ausgearbeitet: Von Abgeordneten und sehr geringer Bürgerbeteiligung. Die Verfassung von Montecristi zeichnet sich durch eine breite Beteiligung aus. Sie ist die ecuadorianischste Verfassung aller Zeiten. Inhaltlich handelt es sich um eine Verfassung, die eine Art gemeinsames Lebensprojekt zusammenfasst. Sie ist ein demokratisches Werkzeug für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft.
Was wurde geschafft in Sachen soziale und solidarische Wirtschaft?
Obwohl diese Verfassung vom damaligen Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, verteidigt wurde, wurde sie nie in die Praxis umgesetzt. Die Verfassung sagt ganz klar, dass der Mensch über dem Kapital steht. Correa hat den Mund voll genommen und erzählt, dass der Mensch über dem Kapital steht. Aber in seiner Regierungszeit hat er die großen wirtschaftlichen Gruppen bevorzugt. Correa hat sich nie für die neue Verfassung interessiert, für ihn war sie ein Werkzeug, um als Caudillo (autoritärer Politiker, Anmerk. der Redaktion) Macht zu konzentrieren.
Für Sie ist Rafael Correa ein Caudillo. Wieviel steckt davon auch in Linksregierungen wie Evo Morales in Bolivien, Christina Kirchner in Argentinien oder Lula in Brasilien?
Was mir Sorge bereitet, ist der Umstand, dass die progressiven Prozesse, die in Wirklichkeit gar keine linken Prozesse sind, alte Formen und Praktiken des Caudillismo verfestigt haben. Die lateinamerikanischen Caudillos haben die Geschichte in unseren Ländern, mit ihren jeweiligen Varianten, stark geprägt. Die Geschichtsbücher sind voll von Caudillo-Figuren auf der einen Seite und unzureichenden Demokratisierungsprozessen auf der anderen. Genau das wiederholt sich mit den progressiven Regierungen. Und darin findet sich einer der Gründe, warum diese fortschrittlichen Bewegungen nicht vorangekommen sind. Sie haben die Demokratie nicht vertiefen können. Wenn etwas an diesen Regierungen zu kritisieren ist, dann die Tatsache, dass sie im politischen Feld zu einer Schwächung der sozialen Bewegungen geführt haben. Das wiederum hat die Folge gehabt, dass der Neoliberalismus jetzt in vielen Gesellschaftsbereichen verstärkt wieder Raum gewinnt.
Wir hatten einen Linksruck in Lateinamerika. Ist der jetzt vorbei?
Ich denke ja. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine ist, dass die progressiven Regierungen nicht versucht haben, die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation anzugehen. Auch wurde die Akkumulation des rohstoffbasierten Exportmodells nicht angerührt. Alle lateinamerikanischen Länder, ob mit liberalen, neoliberalen oder progressiven Regierungen, haben die Abhängigkeit ihrer Wirtschaft vom Weltmarkt ausnahmslos vertieft. Wir sind immer abhängiger vom Export der natürlichen Rohstoffe, ob Agrarprodukte, Erdöl oder Mineralien, geworden. Wir wurden Zeugen einer Deindustrialisierung und neuen Rohstofffixierung unserer Ökonomien.
Wo sehen Sie die Linke in 15 bis 20 Jahren?
Linke wie progressive Regierungen müssen einen tiefen Prozess der Selbstkritik durchlaufen. Es muss analysiert werden, welche Fortschritte, vor allem aber welche schweren Fehler begangen wurden: wirtschaftliche, politische und soziale, die tiefgreifende Transformationen verhindert haben. Es gab große Erwartungen, Diagnosen und Vorschläge. Und es gab Verfassungen wie in Ecuador, die ein Referenzrahmen für große Transformationen hätten sein können.
Was denken Sie über die Regierung in Venezuela?
Es scheint, als durchläuft Venezuela in Politik und Wirtschaft eine nicht enden wollende, letzte große Krise. Das hat interne Gründe. Es gibt aber auch den imperialistischen Druck. Das Imperium macht seine Hausaufgaben, um jeden alternativen Prozess zu schwächen.
Aber Venezuelas Präsident Maduro hat auch keine großen Anstrengungen unternommen, um sich zu legitimieren…
Darum sage ich: interne Gründe. Wie sehen in Venezuela schwerwiegende Fehler: Ein Land mit so vielen wirtschaftlichen Ressourcen war nicht in der Lage, die Nachfrage nach grundlegenden sozialen Dienstleistungen zu befriedigen. Das hat nichts mit Imperialismus zu tun. Das ist eine schlechte und unverantwortliche Führung. Die Festigung von autoritären Caudillo-Regimen ist auch eine der Erklärungen für die aktuelle Lage. Das muss eine der großen Botschaften für die Linke sein.
Ist die Korruption innerhalb der Linken auch ein Teil der Selbstkritik?
Für alle! Aber im Fall der Linken ist Korruption nicht hinnehmbar, sei es in Ecuador oder Brasilien. Die Linke muss jetzt Selbstkritik üben und die Wahrheit finden, koste es, was es wolle. Es ist besser, sie zieht sich zurück und lernt. Wenn die Linke die Gesellschaft wirklich verändern will, dann braucht sie einen Neustart auf Grundlage neuer Ansätze.
Die da wären?
Ein feministische Linke, die das Patriarchat konfrontiert. Eine ökologische Linke, die die Rechte der Natur sicherstellt. Eine sozialistische Linke, die soziale Gleichheit möglich macht. Eine dekoloniale Linke, die uns die Überwindung aller Spielarten von Rassismus, Ausgrenzung und Marginalisierung erlaubt, in Lateinamerika bis heute ein Übel.
Das Interview erschien zuerst bei larepublica.pe. Übersetzung: Benjamin Beutler
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