Geheimdienst war am Attentäter dran

Neues im Fall Amri: Verfassungsschutzchef verbreitete auch Unwahrheiten zum Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlag

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Lia Freimuth, so lautet ihr dienstlicher Name, arbeitet seit zehn Jahren im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Die 33-Jährige wertet alles aus, was zum Thema islamistischer Terrorismus »ins Haus« kommt, legt also Akten an, analysiert Inhalte, erarbeitet Vorschläge für die operative Arbeit. Die Beamtin wurde am Donnerstag vom Bundestagsuntersuchungsausschuss »Breitscheidplatz« befragt. Zumeist im Geheimen.

Rund 500 Islamisten hat sie »im Blick«, 40 bis 50 davon seien wichtig. Zu denen gehörte Anis Amri. Der Mann, der am 19. Dezember einen Sattelschlepper auf den Berliner Weihnachtsmarkt gesteuert und insgesamt zwölf Menschen umgebracht hat, galt im BfV als IS-Sympathisant mit Gefährdungspotenzial. Weshalb er eine eigene, von Freimuth angelegte, Personenakte hatte.

Die ersten Erkenntnisse über Amri haben im BfV ab Januar 2016 vorgelegen - elf Monate vor dem Anschlag. Ihr seien »vier Beschaffungsaufträge in Erinnerung«, die sie ausgelöst und mit den entsprechenden V-Mann-Führern besprochen habe, gab Freimuth am Donnerstag zu Protokoll. Die Anregung zu einer weiteren Operation sei von einer anderen Behörde gekommen.

Als der vom Berliner-Amri-Ausschuss eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost im Mai 2017 zweimal beim BfV nach dessen Erkenntnissen über Amri fragte, hieß es dagegen noch, dass man »vor dem Anschlag keine eigenen Informationen zu Amri besessen und auch keine eigene Informationsbeschaffung zu Amri betrieben« habe. Eine Lüge. Dass der Geheimdienst Amri im Blick hatte und für gefährlich hielt, wird auch durch ein Behördenzeugnis unterstrichen, das bereits im Januar 2016 vorlag. In dem Dokument steht, unterschrieben von Maaßen: »Amri versucht offensiv, Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen. Er beabsichtige, sich mit Schnellfeuergewehren des Typs AK 47 zu bewaffnen, die er über Kontaktpersonen in der französischen Islamistenszene beschaffen könne.«

Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), bei dem alle deutschen Sicherheitsbehörden an einem Tisch sitzen, wurde das Problem Amri zwischen Februar 2016 und Anfang November 2016 mindestens sieben Mal erörtert. Und dann runtergefahren. Am Februar 2016 kommt man mehrfach zu dem Ergebnis, dass »ein schädigendes Ereignis in der Zukunft eher unwahrscheinlich ist«, ja sogar »eher auszuschließen« ist.

Da ist wohl die interne Einschätzung des Bundeskriminalamts, das sich unter anderem am 23. Februar 2016 mit Amri befasste, zutreffender: Da liest man von einer »Intensivierung von Anschlagsplanungen«, die er »ausdauernd und langfristig« verfolgen würde. Der Generalbundesanwaltschaft eröffnete am 23. März 2016 ein Ermittlungsverfahren gegen Amri. Man wusste, dass Amri »heiraten« wollte. Das dabei im Chat verwendete Wort »Dougma« ist das Synonym für Selbstmordbereitschaft, so sagen Experten. Hat der BfV das alles nicht gewusst? So wie er die Warnungen des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes nur so am Rande mitbekommen haben will?

Aufschluss kann womöglich die von Freimuth angelegte Akte »Amri« geben. Laut Ausschussforderung hätte sie am 27. April 2018 auf dem Tisch der Abgeordneten liegen müssen. Vermutlich dauert das Schwärzen von interessanten Textstellen noch an.

Amri war kein »reiner Polizeifall«, der »in den zuständigen Bundesländern bearbeitet wurde«. Das hatte Maaßen im März 2017 behauptet. Im Dezember noch sagte er: »Der Verfassungsschutz war mit dem Fall nur am Rande befasst. Amri war bis zuletzt ein Fall in den Händen der Polizeibehörden.« Auf die Frage im Ausschuss, ob Amri vom BfV mit sogenannten nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht wurde, rang sich Lia Freimuth zu einem »Ja« durch.

Was mutig war, denn damit widersprach die Beamtin nicht nur ihrem Amtsleiter, sondern negierte auch die »Hinweise« vom im Ausschuss anwesenden Vertretern des Bundesinnenministeriums und des Geheimdienstes, wonach Freimuth »aufpassen müsse«, dass sie sich nicht des Geheimnisverrats schuldig mache.

Zumindest nach dem Anschlag hätte der Inlandsgeheimdienst seine Erkenntnisse vorlegen müssen. Die lagen vor, denn am 21. oder 22. Dezember 2016 wurde die Islamismus-Auswerterin Freimuth zum Chef zitiert. An der Beratung nahmen auch andere BfV-Mitarbeiter teil. Spätestens da erfuhr BfV-Präsident Maaßen von den operativen Maßnahmen seines Geheimdienstes gegen Amri.

Hat er dieses Wissen vor dem Innenministerium und den Kanzleramt verborgen? Wie sonst konnte die Bundesregierung noch Ende Januar 2017 auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen behaupten, »Amri wurde nicht vom BfV mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht«. Und: »Im Umfeld des Amri wurden keine V-Leute des BfV eingesetzt.«

Maaßen wusste um die Brisanz dieser und anderer Falschaussagen. Als er am 24. März 2017 mit Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) zusammentraf, hatte er auf seinem Sprechzettel vermerkt, dass »ein Öffentlichwerden des Quelleneinsatzes ... zu vermeiden« sei. »Ein Fehlverhalten des BfV oder der Quelle ist nicht zu erkennen.« Daher müsse »ein weiteres Hochkochen der Thematik« unterbunden werden.

Es wird Zeit, dass die Thematik »hochkocht«. Dazu gehört, dass die These vom »Einzeltäter Amri« aufgegeben wird. Klar ist, dass der vom Islamischen Staat (IS) radikalisierte Attentäter offenbar im italienischen Gefängnis mit anderen in Deutschland lebenden und vom BfV bearbeiteten Islamisten in Kontakt stand. Schon die These, Amri sei am am 6. Juli 2015 allein nach Deutschland eingereist, ist nicht haltbar. Er war bereits da Teil eines IS-gesteuerten Netzwerkes.

Als die Linkspartei-Abgeordnete Martina Renner der Zeugin im Zusammenhang mit Amri die Namen einer - wie Insider sagen - islamistischen »Reisegruppe« vorhielt und fragte, ob sie diese Verdächtigen ebenfalls im Blick hatte, kam Freimuth nicht umhin, zu nicken.

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