Systemprotest von rechts?

Wolfgang Engler und Jana Hensel versuchen, ostdeutsche Befindlichkeiten zu ergründen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 8 Min.

Zwei Sachsen im Gespräch. Er: 1952 in Dresden geboren, Professor für Kultursoziologie und Ästhetik, bis 2017 Rektor der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Sie: Jahrgang 1976, in Leipzig aufgewachsen, schrieb für »Zeit«, »Spiegel«, »Welt« und war eine Zeit lang stellvertretende Chefredakteurin des »Freitag«. Wolfgang Engler ist Autor zahlreicher viel diskutierter Bücher, wie »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land« und »Die Ostdeutschen als Avantgarde«. Jana Hensel wurde vor allem mit »Zonenkinder« und »Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten« bekannt. Ganz klein gedruckt im vorliegenden Band ein dritter Name: Maike Nedo, »Moderation und Bearbeitung des Gesprächs«. Im Klartext heißt das: Sie hat ein Buch mit zwei Prominenten gemacht, gut ausgewählt für diesen Zweck, und tritt bescheiden hinter sie zurück.

Wenn man also beim Lesen glauben mochte, schweigender Dritter in einem Gespräch unter vier Augen zu sein, war es in Wirklichkeit eine Talkshow, die sich hoffentlich auf diversen Veranstaltungspodien, vielleicht sogar im Fernsehen, fortsetzen möge. Ein aktueller Anlass dafür ist gerade mal wieder gegeben: rechte Krawalle in Chemnitz und Köthen. Diese Ostdeutschen! Da dürfte dem Buch Medienaufmerksamkeit gewiss sein. Aber zunächst trifft es auf eine Einzelperson - die Leserin, den Leser.

Der Titel »Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein« ist verkaufsträchtig, trotzig. Man könnte eine Erklärung der ostdeutschen Seele erwarten, die es so freilich nicht geben kann. Dass da zwei aufrichtig über sich selbst Auskunft geben, über ihr Gewordensein und das, was sie als ihre Identität betrachten, bietet Stoff genug, sich selbst in Beziehung zu setzen, Übereinstimmungen ebenso wie Unterschiede zu entdecken: Wer bin ich? Was erstrebe ich? Wovor fürchte ich mich? Was sind die Zusammenhänge, in denen ich mich befinde? Zu solchen Fragen und Erkenntnissen kann die Lektüre durchaus beitragen.

Es gehört zur Mediengesellschaft, in der wir leben, dass selbst wissenschaftlich Analytisches zugleich meinungsstark hervortreten muss, um über einen engen Spezialistenkreis hinauszuwirken. Ohne Skandalisierung geht es nicht. »In Ostdeutschland wurde die AfD vor der Linken zweitstärkste Kraft«, stellt Wolfgang Engler fest, fügt dann allerdings hinzu, dass die AfD »selbst in Baden-Württemberg, im westdeutschen Musterländle« nach CDU und Grünen drittstärkste Partei geworden ist.

Allerdings war der Stimmenanteil der Rechtspopulisten in den neuen Ländern doppelt so groß als in den alten. Das ist sozusagen der »Aufhänger«, um sich, zu Recht, gerade mit ostdeutschen Erfahrungen zu beschäftigen, wobei diese - dessen sind sich beide Gesprächspartner bewusst - für vielbeschäftigte Intellektuelle doch andere sind als für Menschen, die durch den Systemwechsel an den sozialen Rand gedrängt wurden, für die eine offene Gesellschaft eben keine Erfolgsgeschichte darstellt, sondern als Überforderung erlebt wird.

Eine »quasi-migrantische Erfahrung« nennt es Jana Hensel. Wolfgang Engler meint, dass »Absturz- und Verlusterfahrungen« inzwischen zu einem »Zusammenhangsgefühl« führten, das es zu DDR-Zeiten so gar nicht gab. Damals habe das »Vergessen privateigentümlicher Grenzen und Zuständigkeiten … das Selbstgefühl, die Beziehungen zwischen Arbeitern und Vorgesetzten, Frauen und Männern auf eine Weise« verändert, »die tatsächlich Neues zutage förderte, Geschlechter-, Standes- und Klassengrenzen abschliff, jeder und jedem aufgrund der unantastbaren Stelle ein eigenes Leben ermöglichte und das Gefühlsleben aus seiner Einbettung in Nützlichkeitserwägungen löste«. Das sei »Vorschein einer neuen Art des Lebens und Zusammenlebens« gewesen. - Indes, ein Vorschein nur.

»Wind of Change« - bis heute habe ich die betörende Hymne der »Scorpions« im Ohr. Ein machtvoller Trivialmythos, der damals dem Fühlen vieler Menschen in Osteuropa zu entsprechen schien, es in gewisser Weise auch bestärkte. Perestroika - Umbau der Verhältnisse zu etwas Besserem - so verstand ich es damals; heute lässt mich »Wind of Change« an »regime change« denken. Gefeiert wurde eine die Romantik des Aufbruchs, und man ahnte nicht, dass da Utopien begraben werden sollten. Voller Neugier ins Offene gehen - voller Hoffnung auf Zugewinn, noch fast ohne Sorge um etwaige Verluste. Zu dem, was man wie selbstverständlich hatte - garantierte Arbeitsplätze, billige Mieten, weibliche Gleichberechtigung und so weiter -, sollte Entbehrtes hinzukommen: Reisen in die weite Welt, grenzenloser Konsum, Meinungsfreiheit.

Aber haben DDR-Bürger nicht schon in der Schule gelernt, was Kapitalismus bedeutet, wunderte sich jüngst ein Kollege aus dem Westen. Gesagt wurde es ihnen, bis zum Überdruss. Eine Lehre auch für heute: Wenn man Leuten etwas eintrichtern will, kommt es ihnen bald zu den Ohren heraus. Dabei ließ die Reklame im Westfernsehen doch die Augen übergehen. Und Verwandte erzählten begeistert von ihren Reisen. Ich erinnere mich noch, wie Helmut Kohl in einer Talkshow sagte, niemand müsse Angst vor Arbeitslosigkeit haben. Der Staat würde für Unterstützung sorgen, und auch mit Arbeitslosengeld könne man nach Mallorca fahren. Was Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bedeuteten, sagte er nicht.

Wenn DDR-Bürger gen Westen schielten, hatten sie einen anderen Kapitalismus im Sinn als den, den sie dann bekamen: jene soziale Marktwirtschaft, die vielen Westdeutschen einen Wohlstand beschert hatte, der im Osten nicht mehr aufzuholen war.

Wolfgang Engler: »In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften haust massenhafte Wut.« Ein starker Satz. »Der Neoliberalismus hat den Rechtspopulismus nicht nur ideologisch vorbereitet, sondern auch …« Jana Hensel fügt hinzu: »… für die nötige gesellschaftliche Entsolidarisierung gesorgt.«

Darum geht es, das ist das Kernproblem, dass der »Klassenkompromiss« schon lange vor dem Ende der DDR im Westen aufgekündigt worden ist und nun »viele der zu Recht Empörten Fürsprecher wählen, die ihnen zwar zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht verhelfen«.

Führt man diesen Gedanken weiter (was hier nicht geschieht) sind Bewegungen wie die AfD für das neoliberalen Machtsystem gleichsam Blitzableiter, indem sie allgemein vorhandene Wut gegen Migranten richten. Und sollte es tatsächlich zu großen sozialen Protesten kommen, würde ein Schwenk nach rechts dem Staat (als Machtinstrument der herrschenden Klasse) notfalls Zugriffsmöglichkeiten eröffnen, die er in seiner momentanen freiheitlich-demokratischen Verfasstheit nicht hat.

»Die Ostdeutschen bekamen etwas, das sie so nicht bestellt hatten«, sagt Engler, auf den Beitritt zur BRD bezogen. Was sich unter anderen Vorzeichen durchaus wiederholen kann, meine ich.

Zu Recht sieht Engler eine Gefahr darin, »wenn man die deprimierenden Erfahrungen der Menschen nicht ernst nimmt und dem Übel an die Wurzel geht. Das heißt, die Systembedingungen in Frage stellt, unter denen diese Erfahrungen gemacht wurden.« Jana Hensel: »Und in der Konzentration auf den Zuzug von Flüchtlingen hat man sich ein leichtes Opfer gesucht, man versucht mit einer Rebellion die Rebellion zu vermeiden.« Das ist ein Satz, der es in sich hat, der nach Vertiefung ruft, aber das Gespräch dreht sich schnell weiter zu den gut sanierten ostdeutschen Innenstädten, in denen meist Westdeutsche Eigentümer sind. Auch wichtig: »Der Citoyen wechselte, ohne sich dessen recht bewusst zu werden, in die Rolle des Klienten, des Transferempfängers.« Und weiter mit Wolfgang Engler: »Das ökonomische Startkapital der Ostler nahm sich sehr bescheiden aus.« Aber auch im Westen werden die »Komfortzonen brüchig … Viele, zu viele, die vor gar nicht so langer Zeit die Zumutungen der Welt noch abpuffern konnten, stehen jetzt mit dem Rücken zur Wand.«

Immer wieder finden sich solche Sätze im Buch, die man sich anstreicht, die man sich merken möchte. Wie Eisberge ragen sie aus einem aufgewühlten Meer. Denn die Lektüre trifft ja auf eine Erregung, die im Osten tatsächlich eine Spezifik hat. »Die innerdeutschen Ressentiments sind eines der größten Tabus unserer Gesellschaft«, sagt Jana Hensel, »keine der beiden Seiten gibt wirklich zu, wie groß die Vorurteile wirklich sind.«

Dass sie sich abschleifen würden, hätte man denken können. Warum hat sich die Wahrnehmung von Unterschieden manchmal sogar verstärkt? Da hätte die Moderatorin weiterfragen sollen. Es wäre ein noch brisanteres Buch geworden, doch enthält es schon Diskussionsstoff genug. Auch besteht bei einem Gespräch immer die Möglichkeit, dass die Partner vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Warum musste zum Beispiel der Streit um Eugen Gomringers Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin noch mal so ausführlich aufgewärmt werden? Manches ist obsolet, anderes fehlt. Ein Bewusstsein dafür, in welchem internationalen Kräfteverhältnis sich die DDR befand und wie dieses heute beschaffen ist, dürfte den Gesprächspartnern durchaus selbstverständlich gewesen sein, nur äußert es sich nicht. Gab es womöglich Ecken und Kanten, die abgeschliffen worden sind zwecks leichterer Verdaulichkeit?

Die von Jana Hensel geäußerte Kränkung, dass »die ostdeutsche Erfahrung gar nicht als wert empfunden wird, repräsentiert zu sein«, wird sich mit einem solchen Buch zwar nicht heilen lassen, aber immerhin mal wieder ins Gespräch kommen. Sicher hat sie recht, dass Pegida und AfD, gerade im Osten, im Grunde Ausdruck einer »umfassenderen Systemkritik« sind. Was für eine Aufgabe für die Linken, die hier der Vorwurf trifft, den Zulauf zur neuen Rechten nicht gebremst zu haben.

»Da muss man Zähne zeigen«, sagt Wolfgang Engler, »die Wurzeln des verbreiteten Unmuts ausgraben und skandalisieren, und ja, die geheiligten Rechte des Eigentums profanieren, sich an der Systemfrage vergreifen … Dann mobilisiert man Menschen, die nie auf die Idee kämen, links zu wählen. Weil es jetzt um mehr geht als um defensive Ziele, um zu bewahren, zu retten, was zu retten ist vom Wohlfahrtsstaat. Vielmehr um das große Ganze, von existenziellen Fragen her aufgeblättert. Gerade das unterbleibt ... Glücklich darüber, endlich einmal mitspielen zu dürfen im Konzert der Demokraten, verschlug es der Linken den Mut … Was stattfand, war zahnlos, vegane Politik.«

Die Frage ist nur, was geschieht, wenn die Linke wirklich Zähne zeigt, ob die neoliberale Macht die Demokratie opfert, wenn sie ernsthaft angegriffen wird. Kleinmütige Bedenken? Was Wolfgang Engler zur Per-spektive von Kulturschaffenden sagt, dass sie zur »Überbetonung der eigenen Freiheiten neigen und zum Ausblenden der Nöte anderer«, ist jedenfalls den beiden Gesprächspartnern nicht vorzuwerfen.

Wolfgang Engler/Jana Hensel: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau Verlag. 288 S., geb., 20 €.

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