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Auf der Jagd nach Dr. Gervais
Ernst Ludwig Kirchner in der Stuttgarter Staatsgalerie
Irgendwas war faul an der Sache. Schon beim ersten Durchsehen der Dokumente wurde Sandra-Kristin Diefenthaler misstrauisch. Im Auftrag der Stuttgarter Staatsgalerie prüfte zunächst die Provenienzforscherin die Bestände des Museums auf ihre Herkunft, um mögliche Raubkunstfälle aus der Nazi-Zeit aufzudecken und die Bilder, falls möglich, den Nachkommen der letzten rechtmäßigen Besitzer zurückzuerstatten. Als sie die Werke des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner unter die Lupe nahm, galt die Aufmerksamkeit der Museumsdetektivin besonders einem Konvolut von über 140 Arbeiten, das in den 50er Jahren vom Museum angekauft worden war. Als Bezugsquelle nannten die Inventarlisten die Privatsammlung eines gewissen Dr. Gervais aus Zürich beziehungsweise Lyon. Komisch war nur: Weder in der Schweiz noch in Frankreich war Näheres über diesen Kunstfreund zu erfahren. Bald wusste Diefenthaler, dass er nie existiert hat.
Jetzt fingen die Probleme an. Wenn jemand eine Sammlung erfindet, dann, um Besitzverhältnisse zu verschleiern. Rollte hier eine Raubkunstlawine von den Ausmaßen des Gurlitt-Falls auf die deutsche Museumsszene zu? Denn noch andere Ausstellungshäuser, darunter die Staatliche Grafische Sammlung München und das Kupferstichkabinett der Kunsthalle Karlsruhe, haben Kirchner-Werke mit dem Besitzerstempel des Phantom-Doktors im Depot liegen.
Unter dem Titel »Die unbekannte Sammlung« rekonstruiert die Stuttgarter Staatsgalerie nun, wie der vertrackte Kirchnerkrimi ein überraschend glückliches Ende fand. Anlass der Ausstellung ist der 80. Todestag des Malers und Bildhauers, der sich, depressiv und drogenkrank, 1938 in seiner Schweizer Wahlheimat aus dem Leben schoss. Sämtliche hauseigenen Blätter der fraglichen Kollektion sind in Stuttgart zu sehen, ergänzt um alle weiteren Arbeiten Kirchners aus Staatsgalerie-Beständen plus Dauerleihgaben.
Um es kurz zu machen: Nichts von dem, was die Kuratorin Corinna Höper an den zartgrau getünchten Wänden der Stirlinghalle verteilte, wurde jüdischen Vorbesitzern enteignet. Im Entree der Schau bekommt der Mann ein Gesicht, der hinter der Affäre steckt. Er hieß Christian Anton Laely und war ein Schüler Kirchners (allerdings nicht sein bester.) Beide verband ein freundschaftliches Verhältnis.
Der Meister selbst hat den Eleven in einem Holzschnitt porträtiert, Profil- und Frontalansicht überlagern sich darin. Tatsächlich war Laely ein Mann mit zwei Gesichtern. Nach dem Tod des Künstlers und seiner Lebensgefährtin Erna Schilling betrauten die Schweizer Behörden Laely mit der Inventarisierung des Nachlasses. Dabei zweigte er einige hundert Arbeiten für sich ab, um sie nach Deutschland zu verkaufen. Bei insgesamt fast 10 000 hinterlassenen Grafiken, dachte der Spitzbube, würde das keinem auffallen. Da Kirchners Vermögen jedoch mit einer Ausfuhrsperre belegt war, musste Laely dem Zoll die wirkliche Herkunft der Ware verheimlichen. Er erfand Dr. Gervais.
Manche vermuten, Laely habe aus edlen Motiven gehandelt, damit Arbeiten Kirchners, der als entartet galt, nach 1945 wieder in westdeutsche Museen gelangten. Aber in erster Linie hat Laely sich wohl persönlich bereichert, indem er den Schweizer Staat beklaute. Er hat nämlich die Bilder, nach damaligem Recht beschlagnahmt, weil Kirchners Nachlass aufgrund der Kriegszeit als »Feindvermögen« galt. Juristisch handelt es sich bei Laelys Taten um gewöhnlichen Diebstahl oder Unterschlagung. Beides ist, anders als eine verfolgungsbedingte Enteignung durch die Nazis, inzwischen verjährt. Weder die Staatsgalerie noch andere Museen müssen Restitutionsforderungen fürchten.
Diese Geschichte aus der Provenienzforschung ist der spannendste Teil einer sonst nur durchschnittlichen Präsentation, in deren Fokus Kirchners Arbeiten auf Papier stehen. Kein Höhepunkt drängt heraus. Überraschungen, die irgendetwas am bekannten Bild des beliebten Künstlers ändern könnten, entdeckt man kaum. Auch die Hängung überzeugt mit ihrem halbherzigen Kompromiss zwischen chronologischer und thematischer Ordnung nicht ganz. Da aber Typisches aus allen Schaffensphasen zu sehen ist, gelingt es immerhin, Kirchners Entwicklung am Beispiel der Grafik kompakt zusammenzufassen. Das Medium prägte den Künstler nämlich seit seiner Kindheit. Sein Vater bekleidete in Chemnitz eine Professur für Papierforschung.
Vor allem frühe Federzeichnungen wie »Zwei sitzende Akte« weisen Kirchner als Genie der Verknappung aus, das die leere Fläche ruckzuck in eine lebendige Figurenbühne verwandelte. In den zuckenden Kreidestrichen der »Roten Kokotte« wiederum wird seine Faszination für aufregende Großstadtstimmungen lebendig, das hölzern verkantete Konterfei Otto Klemperers veranschaulicht den spannungsreichen Porträtstil. Und natürlich fehlen auch nicht ein paar Badeszenen von den Moritzburger Seen oder der Ostsee, wo das Künstlerkollektiv der »Brücke« gemeinsam mit seinen Nacktmodellen wilde Strandpartys steigen ließ. An der unverschämten Kreidezeichnung »Liegender nackter Mann mit Kind auf dem Rücken« könnten sich Pädophilie-Diskussionen entzünden wie 2010 bei der letzten großen Retrospektive des Künstlers im Städel-Museum in Frankfurt am Main.
Als relativ langweilig erweisen sich indes die Berglandschaften und die bäuerlichen Genrebilder aus den Schweizer Jahren. Auffälliger ist der ekstatische »Farbentanz« (1933/34). Weicht hier doch Kirchners harter, spitzwinkliger Strich sanft schwingenden Umrisslinien. Überhaupt sind bewegte Körperdarstellungen eine Konstante im Oeuvre des Expressionisten: Zirkusartistinnen mit überlangen Beinen, die Dresdener Ballett-Rebellin Gret Palucca als aufgelöste Flatterfigur und immer wieder selige Nackedeis. So auch auf einem 1936 entstandenen Holzschnitt - mit dem Unterschied, dass der ausgelassene Nackedei-Reigen hier um eine rätselhafte schwarze Silhouettenform wirbelt. Ein Gespenst wie Dr. Gervais.
Bis 21. Oktober, Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Str. 30-32; Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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