Eine Europameisterschaft zum Einspielen

Die üblichen deutschen Tischtennis-Asse wollen nach Verletzungen keine Favoriten sein. Die Nachfolger müssen ihre Güte erst noch beweisen

  • Dietmar Kramer, Alicante
  • Lesedauer: 3 Min.

Timo Boll und Dimitri Owtscharow haben im Normalfall keine Probleme damit, vor einem Tischtennis-Großereignissen die Favoritenrolle zugeschrieben zu bekommen. Vor ihren ersten Auftritten ab diesem Donnerstag bei den Einzeleuropameisterschaften in Alicante allerdings üben sich die beiden topgesetzten Deutschen nach ihren langwierigen Verletzungsproblemen in betonter Zurückhaltung. Schenkt man ihnen Glauben, so wäre ein Finale zwischen Europas Spitzenspielern durchaus eine Überraschung.

»Ich sehe mich absolut nicht als Topfavorit. Ich weiß wirklich überhaupt nicht, wo ich stehe«, begründete der in Spanien an Setlistenplatz eins eingestufte Rekordeuropameister Boll vor der Abreise seine gedämpften Erwartungen. Seit seinem bislang letzten World-Tour-Turnier vor mehr als drei Monaten und auskurierten Problemen seiner sensiblen Nackenmuskulatur hat er nur ein einziges Match gespielt. Daher erhofft sich der 37 Jahre alte Düsseldorfer von der EM zuvorderst Spielpraxis: »Ich will wieder das Adrenalin spüren.« Parallelen zu vergangenen Erfolgen nach längeren Wettkampfpausen sieht der sechsmalige Europameister jedenfalls keine: »Ich habe mein Trainingspensum zwar schon gesteigert, aber ich bin sicher nicht da, wo ich sein möchte.«

Wenigstens überhaupt wieder da ist Owtscharow. »Ich bin extrem froh, dass ich die schwere Zeit hinter mir habe«, sagte der Weltcupsieger vom russischen Meister Fakel Orenburg. Wegen eines Stressödems im Oberschenkelhals musste »Dima« eine insgesamt fast viermonatige Zwangspause in der ersten Jahreshälfte einlegen. »Ich habe mir eine Weile schon Sorgen gemacht, wie es wohl weitergeht«, berichtete Owtscharow.

Entsprechend meldet der 30-Jährige nach nur mäßigen Resultaten auf der World Tour für sein Europa-Comeback keine klaren Ambitionen auf seinen dritten EM-Titel an, auch wenn er wieder volle Trainingsumfänge verkrafte: »Ich bin einfach noch nicht in Topform.«

Der Ungewissheit um die Verfassung seines Spitzenduos zum Trotz geht Bundestrainer Jörg Roßkopf von erfolgreichen Europameisterschaften in Spanien aus. Alicante gilt jedoch im Lager des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) vorrangig nur als Durchgangsstation zu den Europaspielen 2019 in Minsk, wo möglichst gleich die erste Chance zur Qualifikation für die Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio genutzt werden soll.

Roßkopf stellt aber auch für die aktuelle EM klare Forderungen auf. Immerhin sind die vier Medaillen der Titelkämpfe von 2016 in Budapest der Maßstab. »Wir wollen in jedem Wettbewerb auf dem Treppchen stehen, denn wir haben in jedem Wettbewerb die besten Spieler Europas am Start«, so Roßkopf.

Ob die drei anderen Spieler, die neben Boll und Owtscharow eingesetzt werden, wirklich schon das Zeug für das sechste Einzelgold bei Roßkopfs siebter EM haben, müssen sie erst noch unter Beweis stellen. Leise Hoffnungen auf einen Coup darf sich wohl Patrick Franziska machden. Er war in den vergangenen Monaten immerhin in Europas Spitzenquintett und die Top 20 der Welt vorgestoßen. In jedem Fall ist der Saarbrücker als Titelverteidiger an der Seite des Dänen Jonathan Groth Medaillenfavorit im Doppel. Dazu ist ihm auch im Mixed mit der WM-Dritten Petrissa Solja (Langstadt) viel zuzutrauen.

Solja ist auch im Doppel mit Titelverteidigerin Sabine Winter (Kolbermoor) Anwärterin auf einen Podiumsplatz. Für das Einzel indes sind die Erwartungen nach dem Verlust des Mannschaftstitels vor Jahresfrist im Vergleich zu früheren goldenen Zeiten etwas zurückgeschraubt worden. »Unsere Spielerinnen«, formuliert es DTTB-Sportdirektor Richard Prause neuerdings sehr vorsichtig, »gehören zum erweiterten Kreis der Medaillenkandidatinnen.« SID/nd

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