Terror als Spektakel

Neu im Kino: »Utøya 22. Juli«

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein elaboriertes Filmwerk, das ein so ernstes wie toxisches Thema mit raffinierter Kameraarbeit angeht, mit intensiven Toneffekten und einer schier unglaublichen Leistung seiner Hauptdarstellerin Andrea Berntzen, deren Spiel sich am frühvollendeten Genie von Saoirse Ronan und Dakota Fanning messen kann, musste nicht scheitern. Voraussetzung war, dass Regisseur Erik Poppe beim Zugriff auf den Stoff ein ähnliches Taktgefühl wahrt wie in der ästhetischen Umsetzung. »Utøya 22. Juli« ist ein Höhepunkt des naturalistischen Kinos. In diesem Lob steckt ein Tadel, oder umgekehrt. Es kommt vor, dass einer scheitert, weil er alles richtig gemacht hat.

Auf Utøya starben innerhalb von 90 Minuten 69 Menschen. So lange, viel zu lange, benötigte die Polizei am 22. Juli 2011, auf die Insel zu gelangen und den Täter zu stellen. Der Film versucht diese Zeit spürbar zu machen, indem er die Handlung 82 Minuten lang ohne Schnitt durcherzählt. Die ersten zwei Minuten, in denen - offenbar der Rücksicht auf die dortigen Opfer geschuldet - Bilder des vorausgegangenen Anschlags von Oslo gezeigt werden, sind nicht die eigentliche Exposition, zumal sie sich kaum auf die gezeigte Handlung auswirken. Alles bleibt auf die Insel beschränkt, die Figuren können noch nicht wissen, was wir retrospektiv wissen. Daher sprechen sie auch, ohne Übersicht der Lage, von »den Tätern« oder davon, dass »die Polizei« (denn Breivik betrat die Insel als Polizist verkleidet) sie angreife. Die erste Entscheidung der Regie also, »Utøya« allein auf Utøya spielen zu lassen, war eine fürs Situative und gegen die Totalität des Vorgangs.

Die zweite Entscheidung verfolgt diese naturalistische Tendenz weiter, indem die Geschichte ausschließlich aus der Perspektive der Opfer erzählt wird. Dahinter steckt gewiss ein ernster Gedanke, denn immerhin entsteht eine Alternative zum sadistischen Rausch, den Filme wie Hanekes »Funny Games« oder das infantile Hohlkino Tarantinos mit Vorsatz erzeugen. In »Utøya 22. Juli« wird die mörderische Tat nicht verherrlicht oder konsumierbar gemacht. Die ersten Sätze, die die Hauptfigur Kaja im Film spricht, sind gleichsam sein Programm: »Das wirst du nie verstehen. Hör mir einfach mal zu.« Es geht darum zu begreifen, was es bedeutet, in dieser Weise Opfer geworden zu sein. Dass, zum Beispiel, in der Not das Wir erst wiederhergestellt werden muss, indem man eine geschlossene Tür noch einmal öffnet, um weitere Schutzsuchende aufzunehmen. Oder darum, wie verschiedene Reaktionsweisen - Pragmatismus, Kooperation, Ausharren, Fliehen, Suchen, Verstecken, aus Rücksicht lügen, die Wahrheit auch vorziehen, wenn sie wehtut usf. - in der konkreten Situation kollidieren.

Nur steckt darin zugleich ein wohlfeiles Spiel mit dem schlechten Gewissen des Publikums, das sich den Voyeurismus, der im Anschauen eines solchen Films ruht, unterschiedlich gern eingesteht. Man solle dem Täter nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, heißt es allenthalben. Dass allerdings mit der Ausklammerung der Täterseite auch ein einigermaßen griffiges Verständnis des Vorgangs ausgeklammert wird, bleibt dem guten Gewissen gleichgültig. Man sieht Breivik nicht agieren, hört bloß die Schüsse, und gelegentlich liegen tote Körper auf den Wegen. Derart entzogen wird er zur dunklen, fast metaphysischen Macht. Kaum noch ein Mensch, ein gesellschaftliches Wesen schon gar nicht. Wie die Elementarteilchen in der Quantenmechanik hat er keinen bestimmten Aufenthalt und ist damit praktisch überall auf der Insel. Er könnte jederzeit an jeder Stelle auftauchen, und das unregelmäßige, aber beständige Donnern seiner Schüsse (mal näher, mal ferner) vermittelt, dass nichts berechenbar, aber die Bedrohung konstant ist. So verliert der Täter jegliche Eigenschaft, mithin seine politischen Motive - jene paradoxe Tinktur aus Islampanik und Kampf gegen den Kulturmarxismus, worin sich Hass gegen und Neid auf den Islam ausdrückt. Wir sehen Terror ohne Inhalt, Mord ohne Ideologie. Weder psychologisch noch ideologisch ist das irgend greifbar. Man kann es nicht schonend sagen: »Utøya 22. Juli« ist ein unpolitischer Film.

Eine dritte Entscheidung hin zum Naturalistischen war die Nutzung einer strengen Focus-Figur. Die Kamera weicht bis zum Schluss nicht von Kaja, was Möglichkeiten ausschließt, die durch Ort und Zeit gegebene Beschränkung ein wenig zu durchbrechen: etwa die Handlungswege verschiedener Personen wiederholt zu kreuzen und von der einen zur anderen zu springen; oder eine konsekutive Montage, ähnlich der in Anderschs »Sansibar«, worin das Handeln einer Figur durch das vorausgegangene einer anderen durchkreuzt werden könnte und nur der Zuschauer es weiß. Der strenge Focus verhindert die Entwicklung eines verständlichen Gegenspiels und verschenkt Gelegenheiten zur Reflexion. Alles bleibt affektiv und momentan.

Die vierte Entscheidung sind die vorsätzlich schmalen Mittel. Es sei, teilt Poppe mit, ein Film für die Opfer und daher wichtig, dass es »so nah wie möglich an dem dran ist, was sie erlebt haben.« Es gibt keine Filmmusik, keine stabile Kamera und keine Schnitte. Speziell die Handkamera wird gezielt eingesetzt, um den Eindruck des Beteiligtseins zu erzeugen. Das one-take-Verfahren zudem schafft ein Gefühl für die erzählte Zeit. Das alles ist handwerklich gelungen, aber genau deswegen zieht es Aufmerksamkeit von der Handlung ab. Der Irrtum des naturalistischen Ansatzes liegt im Glauben, dass in der Kunst Authentizität durch Unmittelbarkeit entstehe. Aber zur gesellschaftlichen Prägung des Publikums gehört auch die Erfahrung mit den ästhetischen Genres. Gerade ein Film ohne Schnitte erscheint unnatürlich und sehr viel gespreizter als einer, der sich wenigstens der kontinuierlichen Montage bedient. Naturalismus möchte mehr Inhalt durch weniger Kunst leisten, tatsächlich leistet er mehr Künstlichkeit und weniger Inhalt, indem er auf die höchstmögliche Durchsprechebene verzichtet und durch angeberische Bescheidenheit genau das, wovon er ablenken will, in den Mittelpunkt stellt.

Dass es Poppe derweil auf ebendiese Art Aufmerksamkeit anzukommen scheint, zeigt sich vollends, man wenn man die Erzähltechnik seines Films betrachtet. Zwischen den eindringlichen, intensiven Momenten werden immer wieder Kniffe placiert, die in anderen Genres Anerkennung verdienten, hier aber Effekthascherei sind. In der Eröffnungsszene etwa, wenn Kaja scheinbar über die Rampe spielt, ehe man merkt, dass sie via Headset mit ihrer Mutter spricht. Oder wenn man den Täter einmal als fern verschwommene dunkle Gestalt sieht, in der Pose des berühmten Photos, das Breivik mit Tauchanzug und Präzisionsgewehr zeigt. In einer Szene hält Kaja in einem der Zelte die Luft an, während draußen ein Schatten vorbeizieht, was wie ein Kurzausflug ins Horror-Genre wirkt. Den größten Ärger macht der ganz und gar unnötige Twist am Schluss, gegen den nicht spricht, dass man ihn vorausahnt, sondern dass vor allem er aus der ernst gemeinten Beschäftigung mit einem Terroranschlag ein Spektakel macht.

»Utøya 22. Juli«, Norwegen 2018. Regie: Erik Poppe; Drehbuch: Siv Rajendram Eliassen, Anna Bache-Wiig; Darsteller: Andrea Berntzen, Elli Rhiannon Müller Osborne, Aleksander Holme. Länge: 93 Minuten

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