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Im toten Winkel der Sprache
Das Wort »Unfall« muss aus der Umgangssprache über Verkehrstote entfernt werden
Anfang der Woche wurde in Berlin erneut ein Radfahrer von einem rechts abbiegenden Lkw-Fahrer übersehen und überfahren. Das Opfer verstarb noch am Unfallort. Es ist bereits der zehnte Radfahrer, der 2018 in der Hauptstadt zu Tode kam. Einige Plätze weiter oben auf dieser makabren Todesliste steht der kleine Constantin. An einem Donnerstagmorgen, war der Achtjährige mit seiner Mutter auf dem Weg zur Schule. Beide warteten an einer Kreuzung, bis die Ampel grün für Fahrradfahrer zeigte. Constantin fuhr lost - und wurde laut Polizeibericht von einem Lkw-Fahrer »übersehen«, der nach rechts abbog. Die Mutter sah das und hatte keine Möglichkeit, den Lkw zu stoppen. Der Junge starb vor Ort. Mehrere Stunden war sein grünes Fahrrad unter dem weißen Lkw zu sehen, während der blaue Schulranzen mitten auf der Straße lag.
So etwas ist schon früher passiert. Und es wird sicher wieder passieren: im letzten Jahr wurden mindestens 38 Menschen in der Bundesrepublik von rechts abbiegenden Lastkraftwagen getötet. Wenn Journalisten, Behörden und die Polizei über diese Vorfälle berichten, ist von »Unfällen« die Rede. Alles im Straßenverkehr sind anscheinend »Unfälle«: Wenn zwei Autofahrer in Berlin mit einer Geschwindigkeit von 170 Kilometer pro Stunde mitten in der Stadt ein Wettrennen bestreiten, vorbei an mehreren roten Ampeln, um am Ende einen vollkommen unschuldigen 69-Jährigen zu rammen, ist der Tod des Mannes ein »Unfall«. Es ist anscheinend auch ein »Unfall«, wenn ein betrunkener Autofahrer, der bereits seinen Führerschein abgeben musste, sich trotzdem ans Steuer setzt - und mit einem anderen Fahrzeug kollidiert. Selbst wenn ein Geisterfahrer in den entgegenkommenden Verkehr kracht, wird dies als »Unfall« bezeichnet.
Diese absurde Verwendung des Wortes »Unfall« verschleiert die Todesursache: dass jedes Todesopfer im Verkehr daran stirbt, dass jemand zu schnell oder unter Alkoholeinfluss gefahren ist, während der Fahrt Mitteilungen verschickt oder auf andere Weise die Tragödie verursacht hat. Alles verschwindet im toten Winkel der Sprache, wenn das Wort »Unfall« zur Routine wird. Diese Apathie verwundert: Flugzeuge stürzen ab, Schiffe havarieren. Nur auf unseren Straßen ist alles offenbar Gotteswille, sind alle Gesetze der Physik aufgehoben. Die Bezeichnung »Verkehrsunfall« signalisiert, dass nichts und niemand wirklich Schuld an einem Zusammenstoß hatte.
Es geht aber auch anders: In den Vereinigten Staaten verschwindet das Wort »accident« aus den Medien und aus dem Sprachgebrauch der Behörden. Die Polizei in New York und in San Francisco hat aufgehört, das Wort zu verwenden, ebenso eine Reihe von staatlichen und lokalen Behörden. Vor Kurzem änderte die Associated Press, die größte Nachrichten- und Presseagentur der USA, ebenfalls ihren Sprachgebrauch. In ihren Sprachrichtlinien (Styleguide), die jahrzehntelang die Sprache der Journalisten prägten, bittet die Agentur nun ihre Journalisten, das Wort »accident« (Unfall) zu vermeiden, wenn die Schuld bei einem der beteiligten Verkehrsteilnehmer liegt. Die Begründung: Es könnte als Freispruch für den Schuldigen verstanden werden. So verfährt mittlerweile die Hälfte der Verkehrsministerien der Bundesstaaten. Statt »Unfall« empfehlen sie Formulierungen wie »Zusammenstoß«.
Diese Debatte ist in den USA nicht neu. Bereits in den 1960ern führte der Arzt und Verkehrssicherheitsaktivist William Haddon, der an der Spitze der National Highway Traffic Safety Administration stand, eine Strafkasse ein. Jedes Mal, wenn einer seiner Angestellten das Wort »accident« verwendete, wanderten 10 Cent in die Kasse. Laut Haddon verhindere das Wort, dass die Bevölkerung verstehe, wie und warum so viele Menschen im Verkehr verletzt oder getötet werden.
Die einflussreiche Grassroots-Aktivistin Candy Lightner argumentiert ähnlich. Nach dem ein betrunkener Autofahrer ihre 13-jährige Tochter getötet hatte, gründete sie 1980 die Elternorganisation »Mothers Against Drunk Driving« und bezeichnete die Verwendung des Wortes »accident« als »beschämend«.
Beschämend - ja. Aber es ist auch eine verblüffend gute PR mit langer Haltbarkeit. Als die Automobiltechnik noch in den Kinderschuhen steckte, waren die Beschreibungen der allerersten Verkehrstoten in den Zeitungen viel direkter. 1896 berichtete die »New York Times« über eine Kollision im Straßenverkehr ohne alle sprachliche Verschleierung: »Der Motormann im pferdelosen Fahrzeug verlor offenbar die Kontrolle über den Wagen und kollidierte mit dem Fahrradfahrer.«
Dass die Wortwahl sich zunächst in den USA, dann auch in Deutschland änderte, ist dem Wirken der Autolobby geschuldet. Laut dem Verkehrshistoriker Peter Norton (von der University of Virginia in Charlottesville), sickerte ab den 1910er Jahren unter dem Einfluss der US-Autoindustrie das Wort »accident« nach und nach in den Sprachgebrauch der Medien. Vielfach geschah dies mit der unterschwelligen Unterstellung, die zu Schaden Gekommenen hätten nicht genug aufgepasst. Auf diese Art wurde die Verantwortung für einen Zusammenstoß auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer abgewälzt - oder zu einem schicksalhaften Ereignis verklärt. Die Schuldfrage sollte möglichst weit weg von den Autofahrern gestellt werden.
Hierzu verwendete die US-Autolobby die Zeichentrickfigur »Otto Nobetter«. Dieser Tollpatsch war ein unvorsichtiger Fußgänger, der an Orten rauchte, wo Explosionen drohten, weil ihm seine eigene Sicherheit relativ egal war. Otto endete immer wie Kenny aus der TV-Serie »South-Park« - am Ende eines Strips starb er ob seiner Unvorsichtigkeit.
Die Figur des »Otto Nobetter« wurde ursprünglich von US-Unternehmern geschaffen, die sich dagegen wehren wollten, dass der Industrie die Verantwortung für Verletzungen und Schäden gegeben wurde, die Arbeitern in Ausübung ihrer Tätigkeit entstanden. Die Schuld der durch Arbeit Verletzten, Verstümmelten und Toten sollte so den Arbeitern zugeschoben werden.
Diese Propaganda wirkt bis heute. Wörter beeinflussen Meinungen. Und deshalb ist die Wortwahl ein großer Teil des Problems auf unseren Straßen. So lange wir den Tod im Straßenverkehr als »Unfall« interpretieren, schauen wir nicht genauer hin und machen uns die Wirklichkeit nicht bewusst.
In Deutschland starben im vergangenen Jahr rund 3200 Menschen im Straßenverkehr, in Norwegen waren es 109. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl heißt dies, dass es in der Bundesrepublik fast doppelt so viele Verkehrstote gab. Warum ist Fahrradfahren in Berlin zwanzigmal gefährlicher als in Kopenhagen? Und warum wohl ist in New York die Zahl der Verkehrstoten innerhalb weniger Jahre um gut ein Drittel gesunken?
Als der kleine Constantin beerdigt wurde, war die Kirche gut gefüllt. Eine ganze Schulklasse verabschiedete sich von ihrem Mitschüler. Eine der Gottesdienstbesucherinnen war die Mutter meiner Söhne. Es war eine Kollegin von ihr, die ihren Sohn durch einen unachtsamen Lkw-Fahrer verloren hatte, dessen Fahrzeug über keinen Abbiegeassistenten verfügte.
Constantin starb nicht bei einem Unfall. Lasst uns das U-Wort in die Rente schicken!
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