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Lieber frei als liberal
Der Liberalismus gilt derzeit als geschwächt. Wofür steht diese Denkschule eigentlich?
Es ist längst ein Gemeinplatz geworden, dass der Rechtsruck die liberale Gesellschaft zu zerstören droht. Gleichstellungspolitik wird als »Gender-Wahnsinn«, die Ächtung rassistischer Begriffe als »Sprechverbote« denunziert. Folgt man der Rechten, dann ist es die Mehrheitsgesellschaft, die bedrängt, stigmatisiert und attackiert wird. Diese Diskursverschiebung spiegelt sich auch in der Linken. Sahra Wagenknecht schrieb unlängst, »Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz (seien) Wohlfühllabel«, und der Spiritus Rector von »Aufstehen«, der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann, ergänzte, für den Kapitalismus sei die »offene Gesellschaft nur ein Türöffner, um die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zerstören zu können«.
Vor diesem Hintergrund bekennen sich andere Linke heute als Liberale, feiern den bürgerlichen Freiheitsbegriff und beziehen sich positiv auf die »offene Gesellschaft« von Karl Popper - immerhin einem Denker, der die linke Frankfurter Schule wegen ihrer grundsätzlichen Gesellschaftskritik attackierte.
Mythen und Vordenker
Wofür steht dieser Liberalismus, der heute in aller Munde ist? Als erstes muss man wohl der Vorstellung widersprechen, der Liberalismus sei als Theorie der freien Märkten entstanden. Die wirtschaftspolitische Orientierung des Liberalismus und seine Staatsphobie ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Ebenso falsch ist außerdem auch die Annahme, der Liberalismus habe immer schon für die Rechtsgleichheit der Menschen gekämpft. Wie das Bürgertum im Allgemeinen hatten auch die Vordenker des Liberalismus erstaunlich wenige Probleme mit Kolonialismus und Sklaverei, und an die Rechte von Frauen und Arbeitern wurde lange Zeit kaum ein Gedanke verschwendet.
Der moderne Staat mit seinem allgemeinem Wahlrecht, sozialen Sicherungssystemen und der rechtlichen Emanzipation von Frauen, Arbeitern und Schwarzen wurde nicht an bürgerlichen Schreibtischen geboren, sondern in den sozialen Kämpfen der Betroffenen. Darin sind im Übrigen auch die Widersprüche im Staat begründet: Seine Institutionen sind Kompromisse, mit denen man den Forderungen der Beherrschten entgegenkam, ohne die Herrschaft als solche zu gefährden.
Wenn der Liberalismus aber weder das allgemeine Wahlrecht noch die allgemeinen Bürgerrechte durchsetzte, womit haben sich seine Vordenker dann beschäftigt? Nehmen wir John Lockes Schrift »Über die Regierung« (1689), die als Meilenstein liberalen Denkens gilt: Sie kreist vor allem um die Frage, wie politische Gemeinschaften entstehen und welche Macht an diese übertragen werden soll. Denn mit dem Entstehen des Staates, der bei Locke noch gar nicht so heißt, wird eine äußere Macht etabliert, die über den Individuen thront und über die Einhaltung von Verträgen wacht. Locke begrüßt diese Staatswerdung sehr: Der Einzelne »verzichtet auf die Gleichheit, Freiheit und Exekutivgewalt des Naturzustands« und legt sie »in die Hände der Gesellschaft«, um »seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten.« Lockes zweites großes Thema, das dann auch die Verfassungsgebung in den USA beeinflussen sollte, war die daran anschließende Frage, wie die neue Macht begrenzt werden kann. Der englische Aufklärer brachte hier die Gewaltenteilung zwischen legislativer, exekutiver und föderativer Macht ins Spiel. Man könnte also sagen: Locke formulierte theoretische Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit.
John Stuart Mills fast 200 Jahre später, nämlich 1859 veröffentlichte Aufsatz »Über die Freiheit« verweist auf einen anderen Aspekt der Herrschaftsbeschränkung. Für Mill, der im Übrigen auch entschieden für Frauenrechte eintrat, geht es um das Recht auf Individualität. Wenn er den Mut des Exzentrikers rühmt, sich Moralvorstellungen nicht einfach zu unterwerfen, dann klingt er fast wie ein früher 68er. Doch man darf sich nichts vormachen: Auch bei Mill werden Freiheitsrechte selektiv verstanden. So ist er zwar der Ansicht, dass man die Meinung, wonach Getreidehändler die Armen aushungern, äußern können muss. Doch diese Meinungsäußerung sollte bestraft werden, wenn jemand vor dem Haus eines Getreidehändlers entsprechende Flugblätter verteilt. Das bürgerliche Recht auf Reichtum kommt auch bei Mill im Ernstfall vor der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Essen.
Aufklärung und Machtverhältnisse
Wenn man sich das vergegenwärtigt, versteht man, warum sich die entstehende Linke im 19. Jahrhundert scharf vom bürgerlichen Denken distanzierte: Die Aufklärer propagierten die Freiheit, doch sie verteidigten gleichzeitig Machtverhältnisse, die dieses Versprechen Makulatur bleiben ließen. Der Beitrag zur Emanzipation liegt auf der Hand: Liberale schrieben über die Beschränkung herrschaftlicher Macht, über das System von checks and balances, also von Ausgleich und gegenseitiger Kontrolle, und über den Schutz des Individuums vor Mehrheiten. Doch gleichzeitig blendeten sie die grundlegenden Machtbeziehungen unserer Gesellschaft - die Eigentumsverhältnisse - systematisch aus.
Diesen Widerspruch sehen wir bis heute. Wenn Liberale von Pressefreiheit sprechen, meinen sie letztlich das Recht der Besitzer großer Vermögen, sich einen Medienkonzern aufzubauen. Alle haben die gleichen Freiheiten - aber nur wenige können sie effektiv nutzen.
Die Tatsache, dass sich Linke im 19. Jahrhundert von der bürgerlichen Aufklärung absetzten, hatte mit der Kritik des bürgerlichen Idealismus zu tun. Die radikalsten Liberalen jener Zeit stellten die Herrschaft der Religion in Frage. Marx teilte diese Kritik, betonte aber, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht von Religion herrühren, sondern von der ungleichen Verteilung des Eigentums. Und er zeigte auf, dass das Bürgertum die Unfreiheit der Sklaven und Arbeiter dabei stets als gegeben oder »privat« hinnahm. Seine Kritik richtete sich also nie gegen die liberalen Freiheits-, Gleichheits- und Individualismusversprechen, sondern wies darauf hin, dass diese Versprechen in einer bürgerlichen Gesellschaft unerfüllt bleiben.
An diesem Problem hat sich bis heute nichts geändert: Theoretisch sind (fast) alle Menschen zu gleichberechtigten Rechtssubjekten geworden. Doch die »freie« Eigentumsordnung sorgt weiterhin dafür, dass Unternehmer und Superreiche, Manager und Banker ihre Interessen viel besser geltend machen können als andere.
Kritik von rechts und links
Liberalismuskritik von links unterscheidet sich deshalb radikal vom rechten Antiliberalismus. Die Linke will die liberalen Freiheitsversprechen nicht zurückdrängen, sondern wirft dem Liberalismus vor, in der Sache der Emanzipation auf halber Strecke halt zu machen. Für den rechten Antiliberalismus hingegen geht es darum, die Emanzipation der Unterdrückten zurückzudrehen - zugunsten des autoritären Staates, des »Volkes«, der Weißen und der Männer.
Was bedeutet das für die Diskussion heute? Nach der Abwicklung der DDR gab es einen schönen Witz über unterschiedliche Prioritäten der Gleichstellungspolitik: »Im Sozialismus sagten die Frauen, ich bin Traktorist. Nach dem Anschluss an die BRD sagen sie: Ich war Traktoristin.« Die Frage, ob die Emanzipationsbewegungen seit 1968 den Auseinandersetzungen um Sprache und Anerkennung zu viel, den Kämpfen um materielle Rechte zu wenig Beachtung schenkten, ist sehr berechtigt. Natürlich stimmt andererseits auch, dass mit Sprache Macht ausgeübt wird. Aber für das Leben von Unterdrückten bedeutender als verletzende Worte ist die Tatsache, dass Unterdrückte in trostlosen Wohnungen leben, schlechtere Jobs haben und früher sterben. Oder allgemeiner, was dann auch sexuelle Identitäten und Orientierungen betrifft: dass sie - ganz materiell - nicht frei über ihr Leben und ihre Körper entscheiden können.
Die Linke darf hinter ihre Kritik am Liberalismus nicht zurück. Wenn sie auf so nervige Weise von der »bürgerlichen Gesellschaft« spricht, dann ist damit gemeint, dass heute die zentrale Machtstruktur systematisch ausgeblendet wird. In der liberalen Debatte ist es hoch angesehen, für die Rechtsgleichheit von Individuen einzutreten; hingegen ist es sehr verpönt, auf das Herrschaftsverhältnis der Besitzenden über die Besitzlosen hinzuweisen.
Neoliberale Liebe zum Staat
Der Hinweis, dass der Neoliberalismus die Erweiterung individueller Freiheitsrechte geduldet oder sogar mitgetragen hat, um sie gleichzeitig materiell zu zerstören, ist völlig richtig. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass die symbolische und diskursive Anerkennung von Frauen oder Schwarzen überflüssig gewesen wäre, sondern dass sie ohne materielle Grundlagen nicht allzu viel wert ist. Es gab also nicht zu viel Gleichstellungs- und Anerkennungspolitik, sondern diese war zu rhetorisch und zu wenig materiell. Und das Problem war in diesem Sinne auch nicht, dass die Emanzipationsbewegungen als Türöffner gedient hätten, »um die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zerstören zu können«, wie Stegemann behauptet, sondern dass diese Bewegungen neben einigen - eher diskursiven - Siegen eben auch zahlreiche - materielle - Niederlagen erlitten.
Zuguterletzt muss man aber auch die ökonomischen Debatten um Staat und Markt etwas zurechtrücken, auch wenn diese mit dem klassischen Liberalismus gar nicht so viel zu tun haben. Die verbreitete These lautet hier, der Neoliberalismus wolle den Staat abschaffen. Das mag in manchem neoliberalen Pamphlet tatsächlich so stehen, doch die Praxis sieht ganz anders aus: Der schnelle Anstieg der US-Staatsschulden begann 1980 just unter Ronald Reagan, einem Pionier neoliberaler Politik, und war Folge der engen Verzahnung von Konzerninteressen (vor allem des Rüstungs- und Finanzsektors) mit dem Staat. Die Neoliberalen wollten nicht »den Staat« abschaffen, sondern die sozialen Sicherungssysteme, die auf Druck der unteren Klassen in den Staat eingeschrieben wurden.
Die Finanzkrise ab 2007 hat das erneut unter Beweis gestellt. Neoliberale lieben den Staat - wenn er Konzerne rettet, Gemeineigentum privatisiert und Proteste niederhält. Auch hier muss die Antwort also differenzierter ausfallen: Linke wollen keinen »starken Staat«, sondern den Ausbau sozialer und demokratischer, individueller und kollektiver Rechte.
Raul Zelik, Jahrgang 1968, ist Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Politikwissenschaftler. Seit 2016 ist er Mitglied des Vorstandes der Linkspartei.
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