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Im Geredeschuppen

»Odyssee« von Roland Schimmelpfennig am Staatsschauspiel Dresden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer Schiller denkt, denkt Posa oder Karl Moor. Wer Goethe sagt, ruft Tasso auf. Noch von Brechts programmatischen Horizonten her melden sich einprägsame Einzelne. Es gab einmal eine Dramatik der Menschwerdung durch individuelle Tat und Gegentat. Die Bühne beherrschten einst Gestalten, die sich aufrissen mit dunkler oder gleißender Energie. Heute dagegen ist Dramatik vielfach eine Gegend brütender, namenloser Menschen, von Autoren in Sprachröhren gesteckt und dann durch Reflexionsebenen und Themenparks geschossen. Gedanken- statt Blutbahnen? Die Sinnfrage gebiert kaum noch sinnliche Antworten. Das Nachdenken über die Welt schafft kein Vorgefühl mehr für vulkanische Typen, die sich kündend, rücksichtslos ins Schicksal werfen. Das extravagante Ich starb wohl aus.

Was man heute einzig noch tun kann, als eine leidenschaftsentleerte Stückfigur des neuen Jahrhunderts: sich erklären, warum man nichts mehr zu klären und nichts mehr zu tun in der Lage ist; mit Worten brüchige Brücken über das Reißende, Verschlingende, das allgemeine Unverständliche bauen. Die Erde ist bevölkert von Versprengten - Distanzen zwischen den Märkten schrumpfen, aber Entfernungen zwischen Menschen nehmen beängstigend zu, auch auf Bühnen. In den Stücken lodert kein Feuer mehr. Kopien von Denkformen stammeln ratlos aneinander vorbei.

Solcherart Dramatik hat in Roland Schimmelpfennig ihren bestaunenswerten deutschen Meister. Für das Staatsschauspiel Dresden schrieb er »Odyssee«, Tilman Köhler inszenierte (Bühne: Karoly Risz). Der leere, helle, holzgetäfelte Raum besteht aus zwei spitz aufeinander zulaufenden Wänden, die Bodenplatte ragt in den Saal. Die Abenteuer, die Odysseus bei Homer bestehen muss, werden modern durchskizziert. Penelope, auf ihren Mann wartend, hat ein Verhältnis mit einem Lehrer. Liebe auf dem Rücksitz eines Kleinwagens - das Gegenbild zu Abenteuer und Weite. Der Lehrer erzählt, was mit dem vermissten Helden geschehen sein könnte. Der Mythos als Vermutungsstoff. Kyklopen, Sirenen, Nausikaa, Calypso: Die Griechen legen an Inseln an - jeder Ankerwurf löst die Versuchung aus, Herrschaft zu probieren; jeder Strandgang reißt Fragen auf, was Ankunft und Heimkehr, Fremde und Freiheit sei.

Eine achtköpfige Spielerschaft. Sinnierender Monolog, leiser Chor, bebende Knäuel. Eine Batterie von Hartschalenkoffern wird hereingeschleppt: Utensil, das für Reise ebenso steht wie für Transport. Die Koffer knallen gegen die Wand: Fortbewegung bleibt Eingekeiltsein. Odysseus und seine Mannen: Was sind das für suchende, fiebernde, singende, seufzende, auch körperkrumm gestörte Existenzen; sie zucken, sie stieren, sie sinken wie blind Tastende ineinander. Das typische Heldensyndrom: geworfen zu sein, sich aber auserwählt wähnen. Zerrissene zwischen Selbstschaffung und Selbsttäuschung. Man stürzt zu Boden, als sei man wirklich überzeugt, er öffne sich. Lähmendes Entsetzen ist immer auch bewegtes Entsetzen, das den Körper, dem Seelenzustand gemäß, ins Zittern bringt.

Ein Bloßstellungsspiel also. Lange Schübe eines verunsicherten, in Angst brüllenden Herumtastens. Odysseus’ Geschichten: distanzierte Berichte - und plötzlicher Übergang vom Erzählen in kurze Trancen des selbstvergessenen Rollenspiels. Matthias Reichwald: männlich sonor, Luise Aschenbrenner: ganz mädchenzart; Philipp Lux: tänzelnd ironisch; Karin Plachetka: kraftvoll salopp; Moritz Kienemann: lustvoll aggressiv; Eva Hüster: emanzipiert aufrecht.

Hinausgewehte hereingeweht. Hin zur Wand, her zur Rampe. Wesen wie sinnlos gewordene Leuchtturmlichter, ein Aufblinken, aber ohne jede Aussicht, da finde jemand an diesen Lichtern Orientierung, einen Halt. Immer trifft der Tod auf eine Sehnsucht, die sich nicht geschlagen geben will - aber wenn sie nach Worten sucht, bietet nur eine nächste Verzweiflung ihren Wortschatz an. Hier sehen sich freiwillig mit Blindheit Geschlagene bei ihren Gesprächs- und Erklärungsqualen zu. Worte manchmal wie Messer, die sich, hinausgestoßen, doch zurückrammen in den eigenen Kopf. Dorthin, wo die Versäumnisse an die Schläfen pochen. Und die Sinnkrisen!

Ist doch jedem klar, wie man leben möchte: träumen, wagen, kämpfen! Aber sieh dir deine Seele im Spiegel an, dann, wenn von deiner lockigen Lebenszeit eines Tages nur eine grausträhnige Frist blieb. Die Träume? Geblichen. Die Wagnisse? Eine bloß noch eitel klingende Anekdote. Die Kämpfe? Im Rückblick eine lächerliche Verausgabung. Ach, wie du einst eingegriffen zu haben glaubtest, wie du verändern wolltest, wie du dich mit dem Furor der Unentbehrlichkeit ins Abenteuer, ins Weltverändern verstiegst. Und am Ende? Nichts ging dir wirklich auf, du gehst wie alles unter - kein Mensch ist wirklich frei. Utopie!, Sinn!, Gerechtigkeit!, Freiheit! - Zauberworte, erst gesungen, dann gesabbert, das Leben nur immer ein Aufbruch in den Abgesang. Und die Frage furchtsam gehaucht: Was bleibt? Und was wäre eine Richtschnur? Von Winden aus vier Himmelsrichtungen wird hier die Rede sein, sie drücken die Menschen an die Wand - und jeder Wind plaudert, pustet, pfeift, peitscht eine andere Wahrheit.

Köhlers Inszenierung hat erweckende Lust an insistierender Meditation. Da ist keine Scham vor direkter Ansprache, aber da herrscht auch kein Rechtfertigungsdruck, etwa den epischen Erzählfluss mit blickfängerischen Planschereien zu versehen. Heimat und Transit, Besiedlung und Besetzung - schnell drängen sich die Assoziationen zur politischen Gegenwart auf. Ja, das Stück ist Schimpf gegen einen Fortschritt, der vor allem die koloniale Gewalttätigkeit perfektioniert; es ist ein Stück über die Folgen weltgreifender Anmaßung: Man könne ungeschoren davonkommen, man entrinne der Schuld, man bleibe sauber durch ideologische Reinwaschungen.

Doch Schimmelpfennigs Text verweigert sich einer vordergründigen Migrationspropaganda ebenso wie einer billigen Polemik gegen Menschen, die von der Heftigkeit globaler Öffnungskonzepte überfordert sind. Den einen gehen die Aufbruchstriebe nicht aus, andere haben schon zu viel gesehen. Bier und Blasmusik und TV-Abendserien dürfen hier als Synonyme einer lebenswerten Kleinkultur gelten. Bürgerliche Traumkorrektur: statt Welteroberung - Bau eines heimischen Geräteschuppens. Das ist des Abends Friedensbotschaft. Theater im Geredeschuppen.

Am Schluss die Ithaka-Ankunft des Helden. Der einen Ruf hat, aber auch in Verruf geriet. Jetzt wird die Inszenierung in der Rollenzuweisung eindeutig. Zum Ensemble der weißen Hemden und weißen Blusen stoßen - schwarzgekleidet - Albrecht Goette als Odysseus und Hannelore Koch als Penelope. Goette sorgt, gegen die präzise Distanziertheit des Abends, für einen emotionalen Sog. Er offenbart das tiefe Leid eines Menschen, der nicht begreift. Im Massigen des Körpers auch etwas, das hart niederzerrt und diesen Odysseus erstarren lässt. Die Stimme wie nach innen gekehrt. Dieser Hinausziehende, der vor Mord nicht zurückschreckt, war ein Strebsamer, und er maß auf seinen Reisen die Strebsamkeit höher als das Innehalten - weil die Welt regen Gebrauch von seinem Ehrgeiz machte. Jetzt nennt ihn diese Welt nur noch einen »Städtezerstörer«? Wie soll so einer die Welt noch verstehen?

Einmal hatten sich die hohen Wände in einen wunderbaren Sternenhimmel hinein geöffnet. Drei Spieler schweben an Seilen hoch hinauf, als sei die Schwerkraft eine Lüge. Am Bühnenrand balanciert lieblich die Göttin der Morgenröte. Flüstert Einladungen zu neuem Aufbruch: Die Odysseen gehen uns nicht aus - wir werden Fremde bleiben, wohin wir uns auch wenden, und wir nehmen Homer weiterhin mit auf alle Wege. Weil wir ohne das Erzählen nicht existieren können. Begann es, als ein Held wie O. sich ans Ufer rettete, weil Dämonen ihn verfolgt hatten? Nein, das Erzählen trat in jenem Moment ins Leben, da sich der Held ans Ufer rettete und schrie, Dämonen verfolgten ihn - obwohl das (mit hoher Wahrscheinlichkeit) gar nicht stimmte.

Nächste Vorstellungen: 9., 7., 18. Oktober.

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