- Kultur
- Syrien und der Westen
Arbeiter sind wie Crashtest-Dummys
Manchen Chefs im Westen ist es egal, wer in Syrien Schutzgelder bekommt: »The Factory« an der Volksbühne
Das syrische Regie- und Autorenduo Omar Abusaada und Mohammad Al Attar thematisieren an der Volksbühne mit dem Dokumentarstück »The Factory« die wirtschaftlichen Beziehungen des Westens mit Syrien, über die sonst wenig zu erfahren ist.
Am Anfang steht ein Werbefilm. Ein Pkw, mit Crashtest-Dummys auf Fahrer- und Beifahrersitz, wird beschleunigt und rast auf eine Betonwand zu. Die Dummys fliegen durch die Frontscheibe, der vordere Teil des Autos ist total zertrümmert, die Betonwand aber steht. Zement von Lafarge sorge für Stabilität, lautet die Botschaft. Der Werbefilm, der mit dem Anrollen eines Panzers endet, wurde von der ägyptischen Filiale des französischen Weltkonzerns in Auftrag gegeben.
Lafarge hat auch eine Filiale in Syrien - die mit Abstand größte Zementfabrik des Landes. 2016 wurde bekannt, dass das US-Militär dort eine Ausbildungsbasis errichtete. Und nach Berichten der englischsprachigen Ausgabe der türkischen - Erdogan-nahen - Zeitung »Daily Sabah« wurde in der Fabrik auch noch Anfang des Jahres gearbeitet, angeblich wurde Zement für das Tunnelsystem im damals noch von kurdischen Milizen gehaltenen Afrin hergestellt.
»The Factory« beschäftigt sich in erster Linie mit den Entwicklungen in den Jahren 2012 bis 2014, als die französische Unternehmensleitung den Betrieb der Fabrik fortsetzte und sich dabei mit den wechselnden Machthabern, die die Region jeweils kontrollierten, arrangierte. An die verschiedenen Milizen wurden Schutzgelder gezahlt, um die Produktion zu gewährleisten. Auch an den IS zahlte das Unternehmen; es muss sich gegenwärtig vor einem Pariser Gericht wegen Terrorfinanzierung verantworten.
Wie in Sachen Terrorunterstützung mit ganz unterschiedlichem Maß gemessen werden kann, macht eine der Figuren des Theaterabends, die französisch-algerische Investigativjournalistin Maryam, deutlich. Sie verweist auf eine mehrjährige Haftstrafe für eine Mutter, die rund 2 000 Euro an ihren Sohn, einen IS-Kämpfer, überwiesen hatte. Es ist nicht anzunehmen, dass die Lafarge-Manager, die mit ganz anderen Summen hantierten, ähnlich streng verurteilt werden; ja, es ist fraglich, ob sie überhaupt verurteilt werden können.
Neben Maryam (Lina Murad) tauchen noch zwei weitere, lebenden Personen nachempfundene Charaktere auf: der Geschäftsmann Firas, Sohn des langjährigen Verteidigungsministers Syriens und Vertreter der alten Elite (gespielt von Ramzi Choukair), sowie Amr (Saad Al Ghefari), Geschäftsmann der jüngeren Generation und als Berater für westliche Unternehmen wie für NGOs in den unübersichtlichen Konfliktzonen Syrien unterwegs. Beide vermittelten unter anderem Schutzgeldzahlungen.
In »The Factory« halten sie Verteidigungsreden. Es lag ja tatsächlich nicht nur im Interesse der französischen Firmenleitung, dass weiter Zement produziert wurde. Auch die Arbeiter waren auf den Verdienst angewiesen. Gestört werden diese Reden allein durch den einzigen Arbeiter an diesem Abend. In Mustafa Kur werden verschiedene Arbeiterschickschale zu einer Figur verdichtet.
Sie erzählt davon, wie wenig sich die Unternehmensführung trotz diverser Schutzgeldzahlungen um die Sicherheit der Belegschaft gekümmert habe: Es gab keinen Notfall- und Evakuierungsplan. Wer wegen anhaltendender Kämpfe oder Straßensperren nicht zur Arbeit kommen konnte, wurde per SMS entlassen. Eine Minimalbelegschaft wurde bis zu Einnahme des Werks durch den IS sogar zur Arbeit gezwungen, auch wenn drum herum die Menschen vor dem einrückenden IS flüchteten. Deutlich wird, dass die Arbeiter kaum mehr wert sind als die Crashtest-Dummys aus dem Werbefilm. Ihr individuelles Schicksal, die Gefährdung ihres Lebens - all das interessierte nicht.
Regisseur Abusaada legt diese Geschichte als unterkühltes Kammerspiel an, mit Figuren, die am Bühnenrand meist an ihren Schreibtischen verharren. Das macht »The Factory« über weite Strecken mehr zu einer Informationsveranstaltung als zu einem Theaterabend, zumal die des Arabischen nicht mächtigen Zuschauer dem Laufband der Übersetzung folgen müssen.
Immerhin befreit sich der Abend am Ende noch aus dem dokumentarischen Korsett. Firas, Geschäftsmann der alten Schule, endet in einem skurrilen Suizid, Amr wird von einem Rachekommando der Arbeiter erschossen.
Theaterhistorisch interessant ist, dass die Tradition der Müller’schen Produktionsstücke, die einst an der Volksbühne gespielt - und zuweilen abgesetzt - wurden, nun mit diesem syrischen Fabrikarbeiterstoff eine späte Fortsetzung erfährt.
Weitere Termine: 6., 14., 19. Oktober.
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