»Kein Vergeben, kein Vergessen«

Zum 50. Jahrestag des Massakers von Tlatelolco fordern Tausende in Mexiko die Aufklärung politischer Morde

  • Mirjana Mitrovic, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie vor 50 Jahren kreist ein Hubschrauber über den Platz. Nach Zeugenberichten schoss dieser damals eine rote und eine grüne Lichtrakete ab. Daraufhin wurde vom Militär auf die dort versammelten Studierenden und Sympathisant*innen der 68er-Bewegung das Feuer eröffnet.

Wer alles an jenem 2. Oktober auf dem Platz der drei Kulturen in Tlatelolco, Mexiko-Stadt erschossen oder entführt wurde ist bis heute nicht abschließend geklärt. Doch das Massaker ist als Trauma tief in das nationale Gedächtnis eingebrannt. Am Dienstag kreist der Hubschrauber über Bühnen, auf denen Rockbands spielen und Gedichte vorgetragen werden. Dazwischen bieten jede Menge mobile Straßenstände allerlei Süßes und Salziges an. Es herrscht geradezu Jahrmarktsstimmung. Doch die Nationalflagge auf Halbmast vor den Plattenbauten, die frischen Blumenkränze an einer Denkmalstehle und die Menschen, die mit Plakaten posieren, erinnern an das Massaker, das sich an diesem Tag jährt.

Die Schilder und Sprechchöre von denen, die der damaligen als auch der heutigen Studierendenbewegung angehören, prangern das Verbrechen sowie die bis heute bestehende Straflosigkeit an, ebenso wie aktuelle Gewalt. Neben Plakaten, die an das Massaker von Tlatelolco erinnern, ist insbesondere der Fall der 43 Studenten aus Ayotzinapa präsent. Sie machten sich vor vier Jahren auf den Weg in die Hauptstadt, um an der Oktober-Demonstration teilzunehmen. Doch am 26. September wurden sie von der Polizei und organisierten Kriminellen aufgegriffen und verschleppt. Ihr Fall wurde international bekannt und ist doch bis heute nicht aufgeklärt.

Die aktuelle Generation von Studierenden ihrer Region war bereits zur Demonstration am vierten Jahrestag des Verschwindenlassens der 43 angereist, ist aber geblieben und auch am Dienstag weit vorne im Demonstrationszug vertreten. Sie tragen T-Shirts auf denen die Gesichter der Studenten abgedruckt sind. Nach Geschlecht getrennt laufen sie in Reih und Glied. Dabei hallen ihre langgezogenen Klagerufe durch die Straßen. Die Solidarität mit ihnen zieht sich durch viele der Blöcke, die 43 ist oft rot gemalt auf Postern, Gesichtern und Wänden zu sehen. Davor steht meist ein Pluszeichen. Es repräsentiert die stetig ansteigende Zahl von Verschwundenen, welche laut aktuellen Statistiken bei über 37 000 liegt.

Nach und nach sammeln sich an diesem Tag die Gruppen, um sich gemeinsam dem Demonstrationszug anzuschließen. Studierende der Fakultät der bildenden Künste setzen sich mit selbstgemalten Plakaten und Drucken, die an das Massaker erinnern, in Bewegung. Der anarchistische Block rückt seine schwarze Vermummung zurecht und eine Person in weißer Kleidung des Klux-Klux-Clan und USA-Flagge in der Hand macht sich mit seinen kostümierten Kollegen auf zum Treffpunkt an der großen Kreuzung.

Dort staut es sich. Nicht einmal von der Brücke, die über eine der Straßen führt, lässt sich ein Anfang oder Ende des Demozugs ausmachen. Später wird berichtet, dass 90 000 Menschen da gewesen seien. Während in der sich formierenden Menge einige noch die mitgebrachte Druckmaschine einsetzen, um eifrig Plakate herzustellen und zu verteilen und andere genüsslich Maiskolben abknabbern, hat die Zugspitze schon den halben Weg zum Ziel hinter sich: Zócalo, der größte zentrale Platz der Stadt und das symbolische Herz der Regierung.

Bei dieser findet momentan ein politischer Wechsel statt, denn die aktuelle Regierung wurde im Juli abgewählt. Mit dem Sieg von Andrés Manuel Lopez Obrador, kurz AMLO, wird ein historischer Wandel prophezeit. Im Dezember wird AMLO den aktuellen Präsidenten Enrique Peña Nieto, und damit eine nur kurz unterbrochene Jahrzehnte lange Ära der aktuellen Regierungspartei PRI ablösen. Schon jetzt sucht er das Gespräch mit politischen Gruppierungen und Angehörigen von Verschwundenen.

Einige von ihnen setzen große Hoffnungen auf ihn, auch weil er im Wahlkampf versprochen hatte, sich für ihre Anliegen einzusetzen. Doch Félix Hernández Gamundi, einer der führenden Aktivisten der 68er Bewegung, stellt bei der Kundgebung am 2. Oktober zur Abwahl der PRI fest: »Wir stehen gerade erst am Anfang. Bisher ist noch nichts gewonnen. Es ist als würden wir Domino spielen und die Steine wurden gerade erst ausgeteilt.« Gamundi betont die Bedeutung von Selbstorganisation: »Wir müssen uns organisieren, (...) um wirklich voranzukommen beim Aufbau eines neuen Landes. Die Gelegenheit ist da.« Bei der Forderung der Gewaltbetroffenen nach Gerechtigkeit und einem Ende der Straflosigkeit, repräsentiert durch den Slogan »Ni perdón, ni olvido« (Kein Vergeben, kein Vergessen) hat es bereits gekracht, denn AMLO verfolgt den abgewandelten Leitspruch »Olvido no, perdón sí« (Vergessen nein, Vergeben ja).

»Kein Vergeben, kein Vergessen« ist auch an diesem 2. Oktober auf Plakate geschrieben, Transparente gemalt und an Wände gesprayt. Damit wird der Leitspruch weiter zementiert und AMLOs Politik in dieser Frage bereits jetzt eine klare Absage erteilt. Das ihr Leitspruch auch weiterhin für die Aufarbeitung des Massakers an den Studierenden und den Sympathisant*innen der 68er Bewegung in Tlatelolco gilt, verdeutlicht die historische Dimension: Immer noch wird die fehlende Gerechtigkeit eingefordert.

Zugleich zeigt sich auf der Demonstration, in wie vielen aktuellen Fälle noch Aufklärung aussteht - neben denen der 43 Studierenden. So gelten die im Chor tönenden Fragen wie »Por qué nos matan, por qué nos asesinan, si somos el futuro de América Latina« (Warum töten sie uns, warum ermorden sie uns, wenn wir die Zukunft Lateinamerikas sind) auch anderen gewalttätigen Angriffen, Vergewaltigungen, Morden und Feminiziden. Dabei beziehen sich die Protestierenden dieses Tages auch auf jüngste Vorfälle auf dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) in Mexiko-Stadt.

So sorgte erst Anfang September ein Angriff auf Schüler*innen der CCH Azcapotzalco, eine in die UNAM eingegliederte Oberstufe, für mediale Aufmerksamkeit. Sie waren bei einer Demonstration auf dem Campus der UNAM gegen die schlechten Lernbedingungen an ihrer Schule von Schlägertruppen angegriffen worden. Nach lokalen Medienberichten sollen es bis zu 300 Schläger*innen gewesen sein, die mit Fäusten, Tritten aber auch Stöcken, Messern und weiteren Waffen auf die Schüler*innen losgegangen waren. Die Fotos gingen in den sozialen Medien viral und nur zwei Tage später versammelten sich Tausende Studierende auf dem Campus, um gemeinsam zu protestieren.

Letztendlich zeigen all diese Fälle, wie gefährlich die politische Organisierung für junge Menschen auch heute - 50 Jahre nach dem Massaker von Tlatelolco - noch in Mexiko sein kann. »Toll, dass diese jungen Menschen wie wir damals protestieren. Zugleich ist es schrecklich, dass sie es noch heute müssen«, sagt eine ältere Frau am Straßenrand zu ihrer Freundin - während der Demonstrationszug an ihnen vorbeizieht.

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