Polizei: Synagogen nicht schützen!

Eine Dreifach-Ausstellung belegt flächendeckende Novemberpogrome 1938 in Sachsen

  • Hendrik Lasch, Chemnitz
  • Lesedauer: 4 Min.

Johannes Ackermann war ein mutiger Mann. Der Pfarrer im erzgebirgischen Tannenberg sagte in einer Predigt zu Silvester 1938, die »Art und Weise, wie einzelne Volksgenossen sich an den Juden vergriffen haben«, sei »gewiss nicht recht« gewesen. Der Satz, ausgesprochen sieben Wochen nach den verharmlosend als »Reichskristallnacht« bezeichneten Pogromen vom 9. / 10. November 1938, brachte ihm eine Anzeige und vielfältige Schikane ein. Das Verfahren bei Gericht wurde eingestellt; dem öffentlichen Druck suchte der Pfarrer zu entkommen. 1940 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, zwei Jahre später fiel er.

Ackermann war eine Ausnahme. Seine Art des Protests »blieb in Sachsen einzigartig«, heißt es in der Ausstellung »Bruchstücke«, die sich mit den gewaltsamen Übergriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen im Freistaat befasst. Sie ging aus einem Forschungsprojekt hervor, das der Historiker Daniel Ristau mit Unterstützung des Vereins »Hatikva« Dresden betrieb und das auch in einem Buch mündete. Ungewöhnlich ist, dass die Ausstellung - besser: Varianten davon - zeitgleich an drei Orten zu sehen ist: in Chemnitz, Leipzig und in Dresden. Generelle Aussagen werden dabei jeweils mit Beispielen und an Personen aus der Region belegt. Ein Mangel herrscht daran nicht: Übergriffe, die von Mord über das Demolieren von Gotteshäusern, Geschäften und Wohnungen bis zu Verhaftungen reichen, sind allein in Sachsen für knapp 60 Orte belegt.

Dabei lebten Angehörige jüdischer Glaubensgemeinschaften vor allem in den großen Städten. Ihr Anteil an der Bevölkerung war gering: Laut Angaben einer Volkszählung von 1925 waren von rund fünf Millionen Sachsen 23 252 jüdischen Glaubens. Viele stammten aus Osteuropa, wo sie oder ihre Vorfahren bereits Pogrome erlitten hatten. In Deutschland suchten sie Zuflucht - und wurden bitter enttäuscht. Frieda Freise, Stadtschulärztin in Chemnitz, sagte deshalb ernüchtert, die Nazis seien »auch nicht besser als die Bolschewiken«.

Als unmittelbaren Auslöser für die Gewaltwelle verweist Ristau auf das Attentat eines jungen Juden auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris am 7. November. Zudem gedachte die NSDAP am 9. November ihrer »Märtyrer« vom gescheiterten Hitler-Putsch von 1923 in München. Die Übergriffe wurden als Ausbrüche »spontanen Volkszorns« inszeniert; es handelte sich aber um eine konzertierte Aktion. Die Anweisungen seien von der NS-Führung an die örtlichen Verantwortlichen übermittelt worden. Die Ausstellung zitiert Vorgaben der Amtshauptmannschaft Glauchau an die Polizei: Plünderungen seien demnach zwar zu verhindern, aber »Synagogen nicht zu schützen und das Einwerfen von Fensterscheiben nicht zu sehen«.

Im Ausmaß der Pogrome unterschied sich Sachsen nicht von anderen Teilen des Reichs, sagt Ristau, der allerdings darauf hinweist, dass mit Martin Mutschmann ein besonders übler Antisemit als Gauleiter fungierte. Er hatte schon 1931 in einer Rede gesagt, es werde ein Tag kommen, an dem »die Synagogen rauchen« würden. Sieben Jahre später war es soweit. In Chemnitz brannte die Synagoge am Stephansplatz, »als eine der ersten im ganzen Reich«, sagt Ristau. Gleiches geschah in Dresden und Leipzig, Zwickau und Plauen sowie einer jüdischen Trauerhalle in Annaberg im Erzgebirge. Nur die Synagoge in Görlitz überstand als eine von wenigen im Land überhaupt die Ausschreitungen. Den Abriss der Ruinen, an dem örtliche Baufirmen verdienten, mussten die jüdischen Gemeinden bezahlen. Reichsweit wurden ihnen zynischerweise zudem »Sühneleistungen« in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Allein die Gemeinde in Görlitz sollte eine halbe Million zahlen.

Bilder brennender Synagogen sind die verbreitetsten Zeugnisse der Pogrome in Sachsen, sagt Ristau. Der Mob wütete aber auch andernorts. In der Vogtlandstadt Netzschkau demolierten Arbeiter einer Maschinenfabrik den Gasthof »Thüringer Hof«. Weil er die ihm dafür aufgebürdeten Strafzahlungen nicht leisten konnte, wurde der Wirt Ignaz Gutfreund enteignet. Er überlebte immerhin den späteren Krieg und die Shoa. Der Direktor des Chemnitzer Kaufhauses Tietz, Hermann Fürstenheim, wurde bei einem Überfall von SA- und SS-Leuten erschossen; nur einer der Täter wurde später verurteilt. Viele Männer kamen in KZ; sie wurden allerdings zumeist bis Ende 1938 zunächst wieder entlassen. Der Kaufmann Georg Salzmann aus Meerane starb freilich an den erlittenen Misshandlungen am 9. Dezember 1938, einen Monat nach den Pogromen, die NS-Propagandaminister Joseph Goebbels am 10. November per Anweisung beendet hatte. Danach, heißt es in der Ausstellung, sei für die Betroffenen jedoch »nichts mehr gewesen wie zuvor«. Viel Schlimmeres sollte folgen.

Die Ausstellungen seien, sagt Ristau, als Wanderausstellungen konzipiert; Lokalhistoriker oder Schulklassen seien eingeladen zu Ergänzungen. Zunächst sind sie zu sehen in Leipzig bis Ende Dezember im Ariowitsch-Haus, in Dresden bis Ende November im Gebetssaal der Jüdischen Gemeinde und in Chemnitz bis Ende Oktober im Staatlichen Museum für Archäologie (smac). Die Wahl dieses Hauses erweist sich im Nachhinein als brisant. Wenige Meter entfernt wurden unlängst nach dem gewaltsamen Tod eines 35-Jährigen Menschen mit scheinbar ausländischer Herkunft gejagt; danach brach ein erbitterter Streit los, ob die Vorfälle als Pogrom zu bezeichnen seien. Sie sei, sagte Sachsens Kunstministerin Eva-Maria Stange deshalb bei der Eröffnung der Schau, »erschüttert«, dass 80 Jahre nach den Novemberpogromen wieder Menschen wegen ihrer Herkunft verfolgt würden »und wir anscheinend hilflos nach der korrekten Bezeichnung« suchen. »Wir bewegen uns«, fügte die SPD-Politikerin hinzu, »auf abschüssigem Gelände.«

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