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- Wagenknecht und #aufstehen
Acht Punkte für mehr Bewegung
Wie kann die Sammlungsbewegung #aufstehen Erfolg haben? Ein Blick in die europäische Nachbarländer und die USA gibt Hinweise, meint Mario Candeias
Es ist die Zeit des Übergangs, noch immer. Im zehnten Jahr der großen Krise ist es in der Europäischen Union mittlerweile zu einer relativen ökonomischen Stabilisierung auf geringem niedrigem Niveau gekommen. Doch wir erlebten in Folge der Krise in vielen Ländern der Europäischen Union fortwirkende Umwälzungen des (partei-)politischen Feldes. Mittlerweile ist auch die Stabilität in Deutschland vorüber, das politische Feld ist in Bewegung geraten. Ein Populismus von rechts bestimmt derzeit die politische Agenda. Vor dem Hintergrund einer mangelnden gesellschaftlichen Mobilisierung und der Fragmentierung der Mosaiklinken wird eine populistische Lücke auf der Linken vermutet, die es auszunutzen gelte. Die Frage ist, wie zu sammeln oder zu verbinden ist, bzw. wie ein populistisches Moment ein populares Projekt voranbringen könnte. Vielfach wird auf europäische und US-amerikanische Beispiele verweisen. Was ist daraus zu lernen?
Dies wirft die Frage auf, wie dies am besten zu schaffen sei, mit welchen Methoden und welcher Konzeption von Partei und Repräsentation. Vor diesem Hintergrund muss man die Entstehung der Sammlungsbewegung #aufstehen betrachten.
In der Debatte wird sich häufig auf den britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn, die Kampagne um den US-Demokraten Bernie Sanders, La France insoumise oder vor einiger Zeit noch Podemos in Spanien bezogen. Nun sind diese Beispiele teilweise sehr unterschiedlich und nicht vergleichbar mit der Situation in der Bundesrepublik: In Großbritannien beispielsweise existiert aufgrund des Mehrheitswahlrechts keine ernstzunehmende Linke jenseits der Labour Party. In Frankreich gilt ebenfalls ein Mehrheitswahlrecht, vor allem aber gab es in allen betreffenden Ländern massive gesellschaftliche Mobilisierung von links - in Großbritannien und noch viel stärker im spanischen Staat. Bedingungen, die es so in der Bundesrepublik nicht gibt. Und dennoch wäre einiges zu lernen:
Erstens konzentrieren sich diese Formationen auf wenige Themen und Botschaften. Sie hegen keinen Vollständigkeitsanspruch, sondern fokussieren sich in der Kommunikation, bei Kampagnen und Organisierung, um wirksamer zu sein. So verzetteln sie sich nicht, bündeln Kräfte und Ressourcen.
Zweitens richten sie ihre Kampagnen gegen einen klaren Gegner: die Regierung und die sie stützenden Kapitalfraktionen.
Drittens formulieren sie ihre Botschaften dabei möglichst inklusiv, damit breitere Gruppen der Bevölkerung sich mit dem Projekt identifizieren können.
Dies bedeutet viertens auch Unschärfen und Uneindeutigkeiten zuzulassen, besonders bei kontroversen Themen, die die Bewegung tendenziell spalten würden. Zwei Beispiele:
- Statt für oder gegen den Brexit Stellung zu beziehen, ließ Labour hier die Position offen, kritisierte sowohl die gegenwärtige EU als auch die Regierung May und ihre Absichten.
- In der Migrationsfrage rief La France Insoumise die laizistische Tradition der Republik an, die nicht nach Migrationshintergründen fragt, hielt an der Unverbrüchlichkeit der Menschenrechte für alle fest, auch für Geflüchtete, und kritisierte EU und Regierung einer schrankenlosen Konkurrenz Vorschub zu leisten und Arbeitsmigrant_innen dafür zu missbrauchen.
Fünftens wurde konsequent versucht, die vermeintlichen Konfliktlinien in der Gesellschaft zu verschieben, das vom Gegner und den Medien vorgegeben Terrain zu verschieben, eine eigene Agenda zu setzen und jene gesellschaftliche Konfliktlinien zu betonen, die eine linke Thematisierung erleichtern: nicht zuletzt lebensweltliche soziale Themen (bei La France Insoumise zentral sozial-ökologische Themen), die die Menschen alltäglich bewegen: Sozial- und Arbeitsrechte, Gesundheit, Wohnen, soziale Infrastrukturen, Umverteilung.
Sechstens - und vielleicht entscheidend -, das aktive Organisieren, um mehr zu werden: Unid@sPodemos und La France Insoumise konnten auf großen gesellschaftliche Mobilisierungen und Bewegungen aufsetzen und örtlich unterschiedliche Plattformen bilden, die eine breite Basis bildeten und eine eigene Dynamik entfalteten. Die Kampagne People for Bernie Sanders und die Organisation Momentum wiederum zogen Abertausende von Aktivisten in den Prozess und machten in der innerparteilichen Auseinandersetzung der Demokraten und bei Labour den Unterschied. Entscheidend ist, alle verwandten enorme personelle Ressourcen mit dem Ziel, vor Ort mit Menschen in Kontakt zu treten und neue Aktivistinnen zu gewinnen, »um zu gewinnen« (Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau). Außerdem verknüpften die Aktivisten ihre Aktionen mit intelligenten Social Media- und Medien-Kampagnen.
Siebtens wurden alle diese Bewegungen getragen von einem jungen, urbanen, akademisch-gebildeten - oft (post-)migrantischen - Prekariat. Doch es gelang ihnen, darüber hinaus zu gehen: mit Mindestlohnkampagnen oder Bewegungen wie Black lives Matters in den USA, mit Bewegungen aus den Vierteln und einer vom Movimiento 15-M inspirierten neuen Arbeitet_innenbewegung (den Mareas) in Spanien, mit Haustürbesuchen und einer gewerkschaftlich gestützten Anti-Austerity-Kampagne in Großbritannien. Die unterschiedlichen Segmente und Millieus der Klasse und ihre vielfältigen Interessen zu verbinden, nicht sie gegeneinander auszuspielen, war zentral. Andernfalls droht die Spaltung in mehrere Formationen, der Verlust der Fokussierung auf den Gegner und eine Demobilisierung von Teilen der Basis. Was auf der einen Seite gewonnen wird, kann auf der anderen schnell verloren werden.
Achtens war eine radikale Perspektive entscheidend. Es ging nicht einfach um die Verteidigung des Sozialstaates, sondern in jedem Fall um eine neue gesellschaftliche Perspektive, einer »wirklichen Demokratie«, eines »demokratischen Sozialismus«, einer »sechsten Republik« mit radikal sozial-ökologischer Agenda. In keinem Fall wurde gegen (links-)liberale und emanzipative Positionen polarisiert, sondern versucht sie im Angesicht der rechten Gefahr nach links herüberziehen - so bei den women’s marches gegen Trump in den USA).
Es gibt in der Bundesrepublik ein populistisches Momentum und eine Suche nach neuen Repräsentationsverhältnissen. Kurzfristig ist die AfD kaum zurück zu drängen. Aber ihr weiterer Aufstieg kann klassenpolitisch eingedämmt werden, wenn es gelingt, einen linken emanzipatorisch-klassenpolitischen Pol attraktiv zu machen. Wir erleben gerade eine Veränderung der Situation: Seit Wochen gehen jedes Wochenende Zehntausende bundesweit auf die Straße, um gegen zu hohe Mieten (Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, unzählige kleine Proteste in den Kommunen), gegen rechts (#ausgehetzt oder Demonstrationen unter anderem in Chemnitz), gegen verschärfte Polizeigesetze sowie für eine Seebrücke und Klimaschutz (wozu der Jahrhundertsommer sicher ebenso beigetragen hat wie der Kampf um den Hambacher Forst) zu protestieren. Diese Bewegungen haben mit #unteilbar einen sichtbaren Ausdruck erreicht. Die Ereignisse in und nach Chemnitz haben deutlich gemacht, wie stark die Bedrohung einer demokratischen und solidarischen Lebensweise ist. Die Frage ist, ob es gelingt, sich über symbolische Sichtbarkeit im »Herbst der Solidarität« hinaus zu organisieren und zu bündeln - und ob es gelingt, nicht nur die politisch aktiven Teile zu verbinden, sondern auch jene einzubeziehen, die aus vielerlei Gründen nicht selbst organisieren wollen und vielmehr eine aktive Repräsentation suchen.
Diese Frage ist jetzt schon auf der Tagesordnung und kann noch drängender werden, etwa mit dem nicht unwahrscheinlichen Zerbrechen der Regierungskoalition vor Ablauf der Legislaturperiode. Eine laue Neuauflage von rot-rot-grün wäre da zu kurz gesprungen. Der dramatische Aufstieg der radikalen Rechten und der Fall der Sozialdemokratie sollten im gesellschaftlichen Feld links der CDU verdeutlichen, dass es eines erkennbaren und radikaleren Gegenprojekts bedarf. Da voraussichtlich weder das »neoliber-kosmopolitische« Lager (CDU, FDP, Teile der Grünen), noch das »rechts-kommunitaristische« Lager (CSU, rechtskonservative Teile der CDU, AfD) eine Mehrheit zu Stande bekämen, wäre es zumindest nicht völlig sinnlos, den Kampf für eine »linke Regierung« aufzunehmen und mit der Stärkung von Bewegungen und dem Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht zu verbinden.
Eine Langfassung des Textes von Candeias findet sich hier.
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