So viel Realismus muss sein

Ein Blick zurück in die Geschichte und ein Blick ins Heute: In Leipzig fand das 62. Dokumentarfilmfestival statt

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 4 Min.

In Zeiten wachsender Ungewissheiten in der Welt, so könnte man den Titel eines auf dem Dokfilmfest Leipzig 2018 gezeigten Films umdeuten, klang das diesjährige Festivalmotto »Fordert das Unmögliche!« vermessen und kühn. Außerdem fehlte dem bekannten Slogan der Satz, der eigentlich davor stehen müsste: »Seid realistisch!« Gleichwohl bildete diese alte, den Anarchisten zugeschriebene Losung einen weiten Rahmen, in den sich alle gezeigten Filme einbinden ließen. Filme zu wirklich allen sozialen Brennpunkten dieser Zeit bestimmten das Programm. Damit blieb das Festival DokLeipzig seiner jahrzehntelangen guten Tradition treu. Dieses Jahr zeigte es insgesamt 306 Werke aus 50 Ländern und erfüllte zudem den selbst gewählten Gender-Anspruch: Sechs von neun Filmen stammten von Filmemacherinnen. Und realistisch waren die Filme allemal.

Alle Jahre wieder und jedes Mal aufs Neue muss man fragen: Kann ein Filmfestival die Welt abbilden? Können Filme überhaupt die Welt wiedergeben? Auch dieses Jahr muss die Antwort lauten: Ja, aber nur, wenn die Nachrichten von sozialen Spannungen Transformationsprozesse abbilden können und Veränderungen anstoßen wollen. So viel Realismus muss sein.

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Noch immer war in den DokLeipzig-Filmen der Blick zurück ein existenzieller, herausragender Erzählstrang. So auch dieses Jahr. Etliche Filme widmeten sich der Aufarbeitung der konfliktreichen jüngeren Geschichte der Balkanländer, ohne abschließende Urteile liefern zu wollen. Erinnerungen an Kriege werden assoziiert, indem individuelle Kriegsfolgen - vor allem schwere traumatische Erlebnisse - nachgezeichnet werden. »No Obvious Signs« (Alina Gorlova, Ukraine) porträtiert eine Ukrainerin, die nach ihren Kriegseinsätzen nur schwer wieder in ein ziviles Leben zurückfindet. Der Film war auch ein schönes Beispiel für den Gender-Schub der Festivalleitung: eine starke Protagonistin, eine einfühlsame Regisseurin und Produzentin (MDR-Medienpreis). Sergej Loznitsa, mittlerweile Dauergast in Leipzig (alle seine Filme liefen hier), geht am weitesten in die Geschichte zurück: In seinem Film »Der Prozess« montiert er (allerdings ohne erkennbare eigene Handschrift) historisches Archivmaterial vom ersten Schauprozess, mit dem der Stalin’sche Repressionsapparat ein wesentliches Instrument seiner Macht installierte, von dem Prozess aus dem Jahr 1930 gegen die Ingenieure der sogenannten Industriepartei. Werner Herzogs langer Interviewfilm »Meeting Gorbachev« lebt vom Respekt des Filmemachers gegenüber dem Wirken eines sichtlich gealterten Michail Gorbatschow. Auch Vitali Mansky personalisiert extrem: In »Putin’s Witnesses« greift er auf eigenes Filmmaterial zurück, das er um das Jahr 2000 drehte, in dem er Wladimir Putins Anfänge als russisches Staatsoberhaupt darstellte, wofür er seinen privaten Zugang zu dem Politiker nutzen konnte. In »Charleroi, le pays aux 60 montagnes« (Guy-Marc Hinant, Belgien) werden die modernen sozialen Konflikte in der belgischen Industriestadt besonders deutlich, wenn sich Arbeiterveteranen an die Zeiten der Volksfront und des Kampfes gegen die NS-Besetzer erinnern, als es dort noch eine starke Arbeiterklasse gab. In »I had a Dream« (Claudia Tosi, noch eine Frau mit einem Frauenteam) fragen zwei temperamentvolle Italienerinnen, wo die Demokratie in den letzten Jahrzehnten italienischer Politik geblieben ist (Berlusconi!) und diskutieren auch über ihren eigenen politischen Aktionismus (Goldene Taube). Andreas Goldstein legt mit »Der Funktionär« seine sehr subjektive Sicht auf seinen Vater vor, den DDR-Kulturminister, Verleger und Botschafter Klaus Gysi. Ihm gelingt - auch mittels privater Aufnahmen -, die Zerrissenheit des Mannes zwischen Parteiergebenheit und intellektuell-kulturellem Anspruch lebendig zu machen, stellvertretend wohl für viele Funktionäre seiner Generation.

So werden innere Konflikte historischer Persönlichkeiten für die Gegenwart beispielhaft erschlossen. Hier schließen auch die Retrospektiven an - traditionell feste Bestandteile von DokLeipzig und stets Publikumslieblinge: »Eine offene Partitur« erinnerte in sieben Teilen an das Jahr 1968 und zielte auf einen weitgespannten internationalen (und nicht nur deutschen) Blick, dito »Re-Visionen, Blicke zurück nach vorn«, und als DEFA-Matinee gab es sechs Debüts von Absolventen der Babelsberger Filmhochschule. Auch zwei Werkschauen boten Beispiele moderner Vergangenheitsbewältigung via Film, darunter Ruth Beckermanns bekanntester und jüngster Film »Waldheims Walzer«, in dem es um die Aufdeckung der NS-Vergangenheit des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim geht, und Lutz Dammbecks Gesamtwerk »Umrisse der Macht«.

Bleibt wie jedes Mal nach einem Filmfestival der heftige Wunsch, viele der Filme bald auch im Kino sehen zu können. »Waldheims Walzer« kam im Oktober in die Kinos und läuft dort derzeit noch.

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