Werbung
  • Politik
  • 100 Jahre Frauenwahlrecht

Freiheit, Gleichheit, Parität

Vor 100 Jahren wurde in Deutschland das Frauenwahlrecht beschlossen.

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 19. Februar 1919 trat eine Frau im Weimarer Schauspielhaus ans Mikrofon und sagte: »Meine Herren und Damen!« Diese Anrede war so ungewohnt wie bedrohlich - für die Männer im Saal. Denn die Frau hieß Marie Juchacz und war Frauenrechtlerin, in dem Theatersaal tagte die neue Nationalversammlung der Weimarer Republik. Fortan sollten dem Parlament auch Frauen angehören, das erste Mal in der deutschen Geschichte, Juchacz war eine von ihnen.

Juchacz war nicht ganz 40, als sie ihre Weimarer Rede hielt, als erste Frau in einem deutschen Parlament überhaupt. Alleinerziehende Mutter zweier Kinder, Sozialdemokratin, ehemalige Frauensekretärin in einem Kölner SPD-Bezirk. »Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf«, sagt sie in Weimar weiter.

Dafür hatte die neue Regierung wenige Monate zuvor gesorgt: Am 12. November 1918 veröffentlichte der Rat der Volksbeauftragten ein Regierungsprogramm, das unter anderem das Wahlrecht großflächig reformieren sollte. Der wichtigste Teil dieser Reform war das Frauenwahlrecht: Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands durften Frauen politisch wählen und sich in ein politisches Amt wählen lassen. »Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«, heißt es dazu in der Weimarer Verfassung.

Am 19. Januar 1919 traten die Frauen in Deutschland das erste Mal an die Wahlurnen, über 300 Frauen kandidierten. Unter den 423 Abgeordneten im ersten demokratischen Parlament waren 37 Frauen. Als Marie Juchacz im Parlament ihre Rede begann, lachte der Saal noch, lachten die Männer. Und das, obwohl im Saal Frauen anwesend waren. »Meine Herren und Damen« muss in den männlichen Ohren dennoch geklungen haben wie ein Versprecher, wie eine kleine Provokation am Rande. Doch die Frau, die da so irritierte, ließ nicht locker und fügte hinzu: »Was die Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden war.«

Der Weg dorthin war steinig: Seit 1848 rangen Frauen um das »Frauenstimmrecht«, gründeten Vereine, hielten Kongresse ab, demonstrierten, schrieben Pamphlete, die das Recht zu wählen als eines ansahen, das nicht ausschließlich Männern vorbehalten sein sollte.

Der Weg seitdem ist nicht weniger hart: Obwohl heute niemand am Frauenwahlrecht zweifeln würde, geschweige denn daran rütteln, stellt sich für Frauen nach wie vor die Frage nach der Wahl - allerdings anderer Natur: Wie will ich leben? Was ist mir wichtig? Was will und kann ich der Gesellschaft geben und was von ihr erwarten?

Diese Fragen treiben viele Frauen um. Nicht etwa, weil sie die Vielfalt an Lebensentwürfen, die sich hinter diesen Fragen verbergen, infrage stellen. Sondern weil sie häufig dann doch nicht die Wahl für das eine oder andere Lebensmodell haben. Ökonomische und gesellschaftliche Zwänge verhindern eine echte Wahl. Mütter, die für ihre Kinder keinen Kita- oder Hortplatz finden, können gar nicht oder nur eingeschränkt arbeiten. Oder sie haben genug Geld, um eine teure private Betreuung zu bezahlen. Andere Frauen entscheiden sich gegen Kinder, weil sie ahnen, dass diese ihre Karriere behindern könnten. Frauen in prekären Verhältnissen und all jene, die von Hartz IV leben (müssen), haben in der Regel niemals die Wahl: kein Geld heißt eine eingeschränkte soziale, kulturelle, gesellschaftliche Teilhabe.

Viele Frauen in Careberufen sind nach anstrengenden Jahren im Job körperlich und psychisch so desolat, dass sie nicht selten aus dem Job aussteigen müssen, obwohl sie gern drin bleiben würden - unter besseren Bedingungen, versteht sich. Manche Frauen, die sich von ihrem gewalttätigen Partner trennen, sind gezwungen, wieder und wieder mit ihm zusammenzutreffen. Immer dann, wenn sie mit dem Mann gemeinsame Kinder haben, die dem Vater nicht vorenthalten werden dürfen. So will es das Umgangsrecht. Nicht selten kommt es bei der »Kinderübergabe« zu neuen gewaltsamen Übergriffen. Für zahlreiche migrantische Frauen potenzieren sich all diese Fragen, weil Migrantinnen zusätzlich unter einer Ausgrenzung leiden, die mit ihrer Herkunft zu tun hat.

Wie könnte man das ändern? Unter anderem mit mehr Frauen in der Politik. Frauen haben häufig einen anderen Blick auf die Welt: auf soziale Gerechtigkeit, Familie, Beruf, Krieg und Frieden. Die ersten 37 Frauen im Parlament 1919 haben den Anfang gemacht, heute sind Frauen aus den Kommunal- und Landesparlamenten sowie aus dem Bundestag nicht mehr wegzudenken. Eine Frau ist (noch) Kanzlerin, Frauen sind Ministerinnen, führen Parteien und schreiben richtungsweisende Strategiepapiere.

Jedoch: Die Selbstverständlichkeit von Frauen in der Politik ist angreifbar, im aktuellen Bundestag etwa sitzen so wenig Frauen wie zuletzt um den Millenniumswechsel, rund 30 Prozent. In Bayern ist der Frauenanteil nach der Landtagswahl im Oktober auf 26,8 Prozent gesunken. Wenn Frauen an politischen Entscheidungen nicht ausreichend beteiligt sind, fehlt am Ende die andere, die weibliche Sicht. Der Deutsche Frauenring fordert in einer Petition ein Paritätswahlgesetz: Parteien sollten verpflichtet werden, ihre Wahllisten zu gleichen Teilen mit weiblichen und männlichen Kandidaten zu besetzen. Was visionär klingt, ist in Frankreich, Irland, Belgien, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien und Griechenland längst geltendes Recht. Doch in Deutschland verläuft selbst die Parité-Debatte schleppend. Marie Juchacz hätte sie bestimmt vorangetrieben.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.