Vorsicht: Hartz-IV-Falle!

Wie eine echte Sozialstaatsreform möglich wäre.

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 4 Min.

Jahrelang wurde sie gefordert, nun scheint sie näher gerückt zu sein: die Abkehr von Hartz IV. Ausgelöst hat die Debatte SPD-Chefin Andrea Nahles mit einer Rede am vorigen Wochenende. Die Grünen legten daraufhin flugs ein eigenes Konzept vor. Doch greift die Konzentration auf Hartz IV zu kurz. Eine bessere Grundsicherung ist zwar nötig. »Wer jedoch die sozialpolitische Diskussion auf das Arbeitslosengeld II verengt, läuft in eine Falle«, warnt der Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Hochschule Koblenz.

Tatsächlich ging es in den vergangenen Tagen vor allem um die Grundsicherung. SPD-Chefin Nahles hatte auf einem »Debattencamp« ihrer Partei eine »große, umfassende Sozialstaatsreform« gefordert, die spätestens in einem Jahr ausformuliert sein soll. Für große Aufmerksamkeit sorgte ihr Satz: »Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.« Nahles plädiert für eine neue Grundsicherung: »Das Existenzminimum darf nie infrage gestellt werden«, sagte sie. Das ist ein bescheidenes Ziel. Die Sozialdemokratin fordert nicht »Wohlstand für alle«, wie Ludwig Erhard Ende den 1950er Jahre, sondern lediglich ein Existenzminimum für alle.

Gerade einmal vier Tage nach Nahles’ Auftritt legte Grünen-Chef Robert Habeck ein Papier vor, in dem er auf sechs Seiten darlegte, wie »wir das Hartz-IV-System hinter uns lassen« - und überholte damit die SPD, was konkrete Vorschläge angeht. Habeck fordert, den Hartz-IV-Satz zu erhöhen und Sanktionen zu streichen. Die Menschen sollen nicht mehr gezwungen werden, Termine beim Jobcenter wahrzunehmen und Arbeit zu suchen. Geprüft werden soll weiterhin, ob die Menschen tatsächlich bedürftig sind. Vermögen soll erst dann angerechnet werden, wenn es höher ist als 100.000 Euro. Derzeit sind die Freibeträge viel niedriger, so dürfen Hartz-IV-Empfänger beispielsweise 750 Euro plus 150 Euro pro Lebensjahr behalten, auch ihre Riesterverträge müssen sie nicht auflösen.

Auch der Sozialforscher Sell hält höhere Leistungen und eine massive Einschränkung der Sanktionen für angemessen. Das gesamte Sanktionssystem basiere auf der Vorstellung, dass es sich bei Hartz-IV-Empfängern um arbeitslose Menschen handle, die schnell einen Job finden sollen. Deshalb müssten sie sich regelmäßig beim Jobcenter melden und könnten bestraft werden, wenn sie das nicht tun. Unter den rund vier Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern sind aber nur etwa 1,5 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose, von denen viele seit Jahren langzeitarbeitslos sind. Die anderen sind eine vielfältige Gruppe, zu der Aufstocker, Alleinerziehende, Studierende und kranke Menschen gehören. Auf diese Menschen passe die ganze Ideologie des Forderns und Förderns nicht oder nur sehr eingeschränkt, kritisiert Sell. Einschließlich der 1,6 Millionen Kinder und Jugendlichen waren im Sommer fast sechs Millionen Menschen auf Hartz IV angewiesen.

Eine komplette Abschaffung der Sanktionen - genauer: den Ausschluss von Grundsicherungsleistungen - hält Sell für unmöglich, so lange nur bedürftige Menschen Hartz IV bekommen sollen. Denn: »Was sollen die Behörden tun, wenn jemand nichts sagt über sein Einkommen und sein Vermögen?« Hier gehe es um die in so einem System notwendigen Mitwirkungspflichten. Deren Verletzung würde zur Folge haben, dass die Leistung nicht ausgezahlt wird. Diese sei eben nicht bedingungslos, was derzeit von der Wählermehrheit vermutlich nicht in Frage gestellt werde.

Sozial- und Wirtschaftsforscher halten es jedoch für falsch, nur auf Hartz IV zu schauen. So verweist Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen darauf, dass nur noch etwa ein Drittel der Erwerbslosen Geld aus der Arbeitslosenversicherung erhält. Er plädiert deshalb dafür, dass langjährig Beschäftigte länger Arbeitslosengeld bekommen. Auch prekär Beschäftigte sollten schneller Anspruch auf diese Versicherungsleistung haben. »Wichtig wäre, dass Arbeitnehmer, die über Jahre gearbeitet haben, nicht in kürzester Zeit auf Hartz IV fallen, wenn sie arbeitslos werden« sagt auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. »Möglich wäre etwa, die Arbeitslosenhilfe wieder einzuführen, die sich am früheren Gehalt orientiert.«

Sell fürchtet sogar, dass »die SPD in eine Falle läuft, wenn sie ihre Pläne für eine Sozialstaatsreform auf Hartz IV einengt«. Dann bestehe die Gefahr, dass wieder einmal die Mehrheitsgesellschaft gegen angeblich faule Hartz-IV-Empfänger in Stellung gebracht werde. »Damit wäre eine große Sozialstaatsreform erst recht nicht mehr möglich.«

Dabei wäre genau dies - eine neues Sozialstaatsmodell - dringend nötig, betont er, damit der Staat den Pflegenotstand beheben, alten Menschen auskömmliche Renten garantieren und Erwerbslosen länger Arbeitslosengeld gewähren kann. All dies sei bezahlbar, wenn der Sozialstaat stärker über Steuern finanziert würde. Die Beiträge aus sozialversicherungspflichtigen Jobs reichten nicht mehr aus, weil immer mehr Firmen mit wenig Beschäftigten hohe Umsätze und Gewinne erwirtschaften, etwa Internetkonzerne.

Solche Unternehmen angemessen zu besteuern, sei nicht trivial. Erst recht nicht, seit die US-Regierung Firmen entlastet und so den Steuerwettbewerb anfacht. Gerade darum müsse die Politik die Finanzierungsfrage aggressiv angehen - wenn sie einen guten Sozialstaat wolle. Dabei sei klar: »Bei einer Sozialstaatsreform geht es um Umverteilung. Hier kann sich die Politik nicht wegducken.«

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