Das Stigma ist der größte Feind

Noch immer steckt sich in Berlin fast täglich jemand mit HIV an.

  • Anna Gyapjas
  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin ist in vielerlei Hinsicht Spitzenreiter unter deutschen Städten. Leider auch, was HIV-Neuinfektionen betrifft. Im vergangenen Jahr steckte sich in der Hauptstadt fast jeden Tag jemand mit dem Virus an. 390 Neudiagnosen wurden 2017 gezählt. Laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) leben insgesamt 14.900 Menschen mit HIV/Aids in Berlin, davon wissen 1600 nichts von ihrer Infektion. Für eine Erkrankung, die unbehandelt lebensbedrohliche Folgen hat, eine ganze Menge. Wie kommt das?

Besuch beim Verein Berliner Aidshilfe in der Kurfürstenstraße, unweit vom Nollendorfplatz. Ein Mitarbeiter bespricht mit einer Portugiesin, wann ihre Begleitung zur HIV-Beratung kommen kann. Der junge Mann, um den es geht, hält den Blick gesenkt. Als sich herausstellt, dass er weder ausreichend Deutsch noch Englisch spricht, greift der Mitarbeiter zum Telefon. Im Team gibt es jemanden, der Spanisch spricht. Das ist zwar nicht Portugiesisch, beim Aufklären könnte es trotzdem helfen. Die größte Hürde hat der Mann bereits genommen. Er hat erkannt, dass ihn das Thema etwas angeht.

Noch immer kommen zu viele Menschen nicht auf die Idee, dass sie von HIV/Aids betroffen sein könnten, weil sie es für eine Krankheit der Schwulen oder ein drogenassoziiertes Phänomen halten. Tatsächlich bilden Schwule, Bisexuelle und andere Männer, die Sex mit Männern haben (Transmänner inklusive, kurz MSM*) die größte Betroffenengruppe. Schätzungen des RKIs zufolge geht die Zahl der Neuinfektionen bei MSM* aber zurück. Leicht gestiegen ist sie bei den Heterosexuellen. Jens Ahrens, Präventionsleiter der Berliner Aidshilfe, ist überzeugt: Die Öffentlichkeit hat das Gefahrenpotenzial einer HIV-Infektion aus den Augen verloren. »Im Grunde muss man jede Generation neu informieren«, sagt er.

Aidspräventionsarbeit ist eine doppelte Gratwanderung. Einerseits gilt es für das Thema zu sensibilisieren, ohne Panik zu stiften. »Das Stigma ist der größte Feind des Fortschritts gegen Aids«, meint Ahrens. Andererseits soll das Stigma der HIV-Infektion aufgelöst werden, ohne Entwarnung zu geben. Dank antiretroviralen Medikamenten können HIV-positive Menschen bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung so alt werden wie gesunde Menschen, ohne das Virus weiterzugeben. Oder noch älter, wie eine neue Studie zeigt, weil Menschen mit HIV öfter ihre Gesundheit kontrollieren lassen.

Doch viel zu wenige Menschen wissen um die Therapierbarkeit. Die dramatischen Bilder der Aidskrise aus dem letzten Jahrhundert haben bleibenden Eindruck hinterlassen. Entsprechend zahlreich sind Ahrens zufolge die Beispiele von Diskriminierung, auch in der LGBTI-Szene. »Insgesamt ist das Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen von HIV-Schutzmethoden in der schwulen Community aber stärker verankert, als in der Allgemeinbevölkerung«, sagt Ahrens. Seit die Therapien verträglicher geworden sind, hat sich auch die Schwerpunkt der Beratungsarbeit verschoben, vom Nebenwirkungsmanagement hin zur Testberatung und Fragen der sozialrechtlichen Versorgung.

Neue Präventionswerkzeuge wie die »PrEP« können helfen, die Anzahl der Neuinfektionen zu senken. »PrEp« bedeutet Prä-Expositions-Prophylaxe. HIV-negative Menschen nehmen das Medikament vorbeugend ein, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Die Aufklärung über Schutzmethoden muss laut Ahrens weiter vorangebracht werden: Zu wenige wissen, dass Menschen mit HIV das Virus sexuell nicht übertragen, wenn sie HIV-Medikamente einnehmen. Als bislang einzige deutsche Stadt hat sich Berlin der weltweiten Initiative »Fast Track Cities« angeschlossen. Das Ziel: Die Ausbreitung des Virus bis 2030 zu stoppen.

90 Prozent der HIV-Infizierten sollen Bescheid wissen, davon 90 Prozent sollen in Behandlung sein und davon wiederum 90 Prozent das HIV nicht mehr weitergeben. Für Aufklärung, Prävention und Behandlung stellt der Berliner Senat mehrere Millionen Euro zur Verfügung. 2,1 Millionen davon fließen in den Checkpoint BLN.

Bei der neuen Anlaufstelle am Hermannplatz in Neukölln gehen psychosoziale und medizinische Beratung Hand in Hand. Im Gegensatz zu anderen Projekten dürfen die hier anwesenden Ärzt*innen aber auch behandeln. Das verkürzt Wege und Wartezeiten. Ein weiteres Novum: Monatlich erhalten 500 Menschen mit berlinpass die PrEP kostenlos. Vom Vorzeigeprojekt der Stadt kündigen in einem gediegenen Altbau aktuell nur bedruckte A4-Zettel. Im dritten Stock empfängt ein grauer Teppichboden und grelles Licht. Der Empfangstresen steht noch mitten im Behandlungszimmer, auf Armlänge von der Liege. Die 500 Quadratmeter große Fläche teilt sich der Checkpoint derzeit mit einem Weiterbildungsinstitut. Sobald das im Frühjahr auszieht, wird renoviert. »Die Idee ist, so umzubauen, dass man sich wohlfühlt und hier gerne herkommt«, erzählt der psychosoziale Leiter des Projektes.

Seit vier Wochen ist Checkpoint BLN in Betrieb, das Angebot wird laufend ausgebaut. Aufbruchstimmung herrscht schon seit 2016, als die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung zur Konzeption lud. »Deswegen war es uns auch ein wichtiges Anliegen, schnell loszulegen.« 16 Klient*innen werden hier pro Woche mit der PrEP versorgt, noch von einer Handvoll Menschen. Das Team soll auf 50 Mitwirkende anwachsen. Nach Settings, in denen man Betroffene zwar beraten und testen, aber nicht behandeln konnte, ist Kohl zufrieden: »Der Checkpoint ist die logische Weiterentwicklung von den spezialisierten Angeboten«, sagt er. »Es ist ein tolles Gefühl, die PrEP zu vergeben.«

Der Checkpoint BLN richtet sich an MSM*, trans* und inter* Personen. Kohl gibt aber zu bedenken, dass eine sehr strenge Trennung von Risikogruppen wenig bringt. »Gerade in einer Clubszene wie der Berliner ist es normal, sich als queer zu definieren und Sexualität als Pansexualität zu leben«, sagt er. Traditionelle Beschreibungsmuster lösen sich auf, es ergeben sich neue Konstellationen, wie Frauen, die regelmäßig mit MSM* schlafen.

Vielfalt feiert man am besten geschützt. Welche Safer-Sex-Strategie man wählt, ist eine individuelle Angelegenheit. Wichtig sind Gespräche. Auch mit jenen, die den Umgang mit HIV-positiven Menschen aus Unkenntnis fürchten. Null-Prozent-Diskriminierung steht auch auf der Agenda der »Fast-Track-Cities«. Der Kampf gegen Diskriminierung, glaubt Ahrens von der Berliner Aidshilfe, wird am Schwierigsten - insbesondere vor dem Hintergrund des Rechtsrucks: »Wir brauchen eine weltoffene, tolerante Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, zum Test zu gehen«, sagt er.

Laut RKI erhalten 92 Prozent aller Menschen mit HIV-Diagnose eine Therapie. Bei 95 Prozent dieser Menschen liegt die Viruslast unter der Nachweisgrenze, sprich sie sind erfolgreich therapiert. Der Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn, die PrEP von den Krankenkassen finanzieren zu lassen - noch kostet sie in der Apotheke 40 bis 60 Euro -, wurde im Entwurf zum geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz berücksichtigt. Scheint, als wäre Deutschland tatsächlich auf der Überholspur.

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