Werbung

Tai-Chi zur Einführung

Die längsten fünf Minuten der Welt. Vielleicht zu beherrschen, wenn man 100 Jahre alt ist

  • Karl Unterdorf
  • Lesedauer: 2 Min.

Ich hätte so gerne die Ruhe weg. Aber wo gibt es die zu kaufen? Und bewegen soll man sich doch, heißt es immer. Damit man nicht einrostet oder krank wird. Am besten in aller Ruhe, konzentriert und ohne Hektik. So wie die Menschen in den Parks, die man im Sommer sehen kann, wenn sie sich in Zeitlupe zu bewegen scheinen - und zwar im Stehen.

Das sieht zwar lächerlich aus, soll aber sehr gesund sein. Man nennt es Tai-Chi. Oder Schattenboxen. Langsame Bewegungen für das innere Gleichgewicht. Bruce Lee hat das früher auch praktiziert. Bevor es ihm zu langweilig wurde und er lieber Karriere machte.

Aber auf die Langweile kommt es an. Sie ist so kostbar: Nur wer sich langweilt, fühlt sich entspannt. Um diesen Zustand zu erreichen, kann man den ganzen Abend Fernsehen schauen. Am besten ohne umzuschalten. Das beruhigt das Gehirn. Leider bewegt man sich dabei zu wenig und schlummert weg. Das ist nicht so fein: Vor dem laufenden Fernseher aufzuwachen, macht irgendwie depressiv.

Beim Tai-Chi ist philosophisch entschieden mehr los. Außerdem gibt es ein fantastisches Versprechen: Mach morgens nach dem Aufstehen fünf Minuten Tai-Chi, und du wirst 100 Jahre alt! Denn im Tai-Chi sind alle Trainingstricks der Kampfkünste andeutungsweise enthalten, sie wurden gewissermaßen essenzartig eingekocht von der Weisheit Asiens. Und das ist auch noch gut für die Synapsen im Gehirn!

Allerdings muss man es erst mal können, das synaptische Einkochen. In Asien gehen sie dafür ins Kloster. In Berlin geht man zur Volkshochschule, weil die Tai-Chi-Kurse zu teuer sind. Und so stehe ich in einer alten Turnhalle in Berlin-Wedding mit vier anderen Menschen, und wir verstehen gar nichts. Das Gefühl kennen die anderen schon, sie machen die »Einführung in die Grundformen des Tai-Chi« zum dritten Mal. Sie sehen auch ziemlich abgenudelt aus. Nur der Lehrer wirkt sehr frisch. Er verrät sein Wissen nur andeutungsweise. Er gibt Hausaufgaben, aber nur mündlich, ohne Merkzettel. Zu üben ist die Bewegung des Kranichs, der seine Schwingen ausbreitet. Er fliegt leider ohne mich davon.

Lassen Sie es mich so formulieren: Tai-Chi, das sind die längsten fünf Minuten der Welt. Vielleicht beherrsche ich diese Kunst, wenn ich 100 bin. Die Aussicht macht mich etwas unruhig.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!