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Das internationalste Nationalteam
Wie Kinder einstiger Arbeitsmigranten den philippinischen Fußball voranbringen.
Patrick Reichelt war vor dem Spiel am Donnerstag ziemlich optimistisch. »Die Chancen stehen so gut wie nie«, fand er beim Gedanken an die bevorstehenden Partien. Drei Spiele mussten noch erfolgreich gestaltet werden, zuerst jenes Halbfinalrückspiel in Vietnam, dem bei einem Sieg zwei Finalpartien gegen Malaysia gefolgt wären - und vielleicht dann die erste Meisterschaft. »Die Philippinen wären endlich die beste Mannschaft Südostasiens«, hatte Reichelt gehofft. Doch daraus wurde wieder nichts, sein Team scheiterte im Halbfinale nach zwei 1:2-Niederlagen. Dabei arbeitet der 30-jährige aus Rudow seit 2012 genau an diesem Ziel. Für sein Land.
Denn auch bis in den Süden Berlins, wo Reichelt aufwuchs, reichte das vermeintlich ferne Archipel aus gut 7000 Inseln, für das der Stürmer heute Tore schießt. »Meine Mutter kommt aus Cebu, einer Stadt im Osten der Philippinen«, erklärt Reichelt, ein großer Mann mit dunklen Augen und Berliner Zungenschlag. Das Fußballspielen lernte er beim Stadtteilklub TSV Rudow, als junger Erwachsener stand Reichelt bei der zweiten Mannschaft von Energie Cottbus unter Vertrag, wo er plötzlich mit einem Zettel im Postfach zu einer zunächst obskuren Auswahl eingeladen wurde. »Mir war damals gar nicht klar, dass in den Philippinen Fußball gespielt wird.« Aber Reichelt flog hin. Und kam fortan nur noch zum Urlaub zurück nach Berlin.
Seit sechs Jahren lebt Reichelt nun schon in Südostasien und ist dort das, was er in Deutschland wohl nie geworden wäre, wovon er nie auch nur zu träumen gewagt hatte: Nationalspieler und Fußballstar. Denn auch dank ihm erlebt der Sport auf den Philippinen, die zwar fast 110 Millionen Einwohner haben, bis heute aber kaum gute Fußballer hervorbringen, einen Hype. Binnen zehn Jahren ist das Land in der Weltrangliste um rund 80 Plätze auf Rang 116 geklettert.
Da die beliebtesten Sportarten aufgrund der langen Herrschaft der USA weiterhin Basketball und Boxen sind, ist der Aufschwung vor allem Spielern zuzurechnen, deren Werdegang dem von Reichelt ähnelt. Die Philippinen haben die wohl internationalste Nationalmannschaft der Welt. Die halbe Startelf wurde in Deutschland ausgebildet. Neben dem Berliner Reichelt ist da der Hamburger Kevin Ingreso, der zuvor im Profikader des HSV stand. Oder Stephan Schröck aus Schweinfurt, der auch für Eintracht Frankfurt auflief. Seit kurzem zählt auch der in Wetzlar geborene John-Patrick Strauß zum Kader, der sonst beim FC Erzgebirge Aue in der 2. Bundesliga spielt. Und dann sind da noch die Brüder Manuel und Mike Ott, gebürtige Münchner, die beide die Nachwuchsabteilung des TSV 1860 durchliefen. Weitere Spieler kommen aus England, Spanien, der Schweiz und Japan.
»Auf uns ruhen große Erwartungen«, sagt Reichelt. »Der Verband will, dass wir in die Top 100 der Weltrangliste aufsteigen.« Man träumt sogar schon von der Qualifikation für die WM 2022 in Katar. Das wäre undenkbar ohne jene Spieler, die in den Philippinen mal scherzhaft und mal abschätzig Ausländer genannt werden: Kinder von Arbeitsmigranten, die ihr Land seit Jahrzehnten millionenfach verlassen, um anderswo als Pfleger, Entertainer oder Sekretäre zu arbeiten. Von den dort höheren Einkommen schicken sie einen Teil zurück in die Heimat und steuern damit kollektiv jedes Jahr etwa zehn Prozent zur philippinischen Volkswirtschaft bei. Nicht wenige schlagen in der Ferne irgendwann Wurzeln. Ihr Nachwuchs wird dann in großen Fußballnationen ausgebildet.
Vor gut zehn Jahren kam der philippinische Verband auf die Idee, diesen globalen Talentpool anzuzapfen. Als den Strippenziehern das Potenzial klar wurde, stellte man mit dem Geld privater Spender ein Team von Scouts zusammen, die weltweit passende Fußballer ausfindig machen sollten. Sie suchten in philippinischen Auslandsgemeinden, in diversen Vereinsnetzwerken und über Facebook. Die Standardnachricht an Spieler, die ins Visier der Späher geraten waren, enthielt auch gleich eine Einladung zum nächsten Länderspiel, mit der dringenden Bitte, Nachweise über die philippinische Staatsangehörigkeit eines Elternteils mitzubringen. So wuchs nach und nach ein Kader zusammen, der von allen Erdteilen stammt.
Nicht jeder Eingeladene hat auch zugesagt. Gern hätte man David Alaba zum Filipino gemacht, schließlich hat er eine philippinische Mutter. Aber der Abwehrspieler von Bayern München entschied sich für Österreich zu spielen, wo er aufgewachsen war. Auch Alphonse Areola, Torwart von Paris Saint-Germain, lehnte dankend ab. Der Sohn philippinischer Eltern wurde im Sommer Weltmeister mit Frankreich. »Die richtigen Hochkaräter sind für uns außer Reichweite«, sagt Mittelfeldspieler Manuel Ott. »Aber derzeit haben wir trotzdem den stärksten Kader unserer Geschichte zusammen.«
Der 26-jährige Münchner, der 2012 zum ersten Mal zum philippinischen Verband stieß, erinnert sich an magerere Jahre: »Am Anfang spielten wir noch viel wilder als heute. Ich kam aus Ingolstadt und musste mich spielerisch erst mal umstellen. Das Spiel in Asien ist weniger organisiert. Man muss dadurch viel mehr rennen.« Heute sei das auch deshalb anders, weil die Truppe zum Großteil aus in Europa ausgebildeten Spielern besteht. Gegen Mannschaften wie Taiwan und Indonesien war man einst Außenseiter, heute gilt man als Favorit. Während vor einigen Jahren noch fast jeder, der in einer höheren Liga Europas kickte und ein philippinisches Elternteil hatte, auch ohne genauere Sichtung gleich fürs erste Länderspiel nominiert wurde, schwärmen nationale Medien mittlerweile über eine Auswahl von nie dagewesener Qualität.
Und allmählich sind auch die europäischen Klubs bereit, ihre Spieler freizustellen. »Die Vereine haben kaum Verständnis. Viele halten solche Länderspiele für unnötig«, hatte sich Stephan Schröck vor ein paar Jahren noch beklagt. Je höherklassig die Vereine waren, desto größer war lange Zeit der Widerstand gegen den neu entdeckten Patriotismus der Spieler. Wozu müsse sich ein Bundesligaspieler in Südostasien die Knochen kaputt treten lassen, wurde Schröck zunächst von seinem Arbeitgeber Greuther Fürth gefragt, dann von der TSG Hoffenheim und schließlich auch von Eintracht Frankfurt.
Der gebürtige Schweinfurter hatte die deutschen Nachwuchsmannschaften der U18, U19 und U20 durchlaufen. Als dann Späher von seinem Migrationshintergrund erfuhren und ihn per Brief auf die Philippinen einluden, beantragte er sofort den philippinischen Pass. Bis dahin hatte Schröck bis auf das Essen, das seine Mutter daheim kochte, kaum ein Verhältnis zu ihrem Heimatland gehabt. Doch mit der Nominierung änderte sich eine Menge. »Meiner Mutter verdanke ich alles, was ich heute bin. Ich wollte ihr und dem Land, in dem sie geboren wurde, etwas zurückgeben.«
Schröck wollte diese Länderspiele unbedingt bestreiten. Jahre der Überzeugungsarbeit brauchte er, bis ihn die Vereine ohne Naserümpfen freistellten. Und seine Bemühungen hatten Signalwirkung. Zur Südostasienmeisterschaft durften mit Neil Etheridge, Torwart bei Cardiff City, und John-Patrick Strauß von Erzgebirge Aue zwei Profis aus Europa anreisen. Die meisten anderen Spieler dagegen hat der Verband mittlerweile zu philippinischen Klubs gelotst. Reichelt, Schröck, Ingreso und die Ott-Brüder etwa spielen gemeinsam beim Erstligisten Ceres Negros. »Wir wohnen alle in derselben Nachbarschaft in Manila«, erzählt Manuel Ott und klingt zufrieden. »Wir sind hier jetzt zuhause.« Damit sei der Kern der Mannschaft auch besser eingespielt als die Teams der meisten Gegner. Bei der Südostasienmeisterschaft sollte dies den Unterschied gegenüber den vergangenen Turnieren ausmachen, als für die Philippinen wie 2018 erst im Halbfinale Schluss war.
Ein weiterer Hoffnungsträger sitzt auf der Trainerbank. Anfang des Jahres unterschrieb der Schwede Sven-Göran Eriksson als Nationalcoach der Philippinen. Er trainierte schon Englands Fußballer bei Weltmeisterschaften und arbeitete bei zahlreichen europäischen Spitzenklubs. Die Spieler sind von Erikssons taktischen Kenntnissen und seiner Menschenführung begeistert, hört man. Und es fällt auf, dass die Mannschaft mittlerweile weniger Gegentore kassiert und nicht mehr so kraftaufreibend spielt.
Für die Südostasienmeisterschaft reichte es nicht: Vietnam und Malaysia stehen im Finale. Für Patrick Reichelt und Co eine kleine Enttäuschung. »Wir haben eigentlich noch viel mehr vor«, sagt er. Denn noch immer gebe es auf den Philippinen Menschen, die mit der Fußballnationalmannschaft wenig anfangen können - vor allem weil sie nicht so richtig national sei, sondern so international. Auch um sich zur neuen Heimat zu bekennen, sind viele der Spieler in den vergangenen Jahren hergezogen. »Die Leute, die immer noch zweifeln, müssen wir durch Erfolge überzeugen«, meint Reichelt. Auf dem Weg dahin hätte die Südostasienmeisterschaft die erste Stufe sein sollen. Die muss nun übersprungen werden. Anfang 2019 spielen die Philippinen beim Asien-Cup. Zum ersten Mal haben sie sich qualifiziert. Ein Platz in den Top 100 der Nationen ist wohl nur noch eine Frage der Zeit.
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