»Aus ist’s! Revolution! Marsch!«

Einträchtig und doch auseinanderstrebend: Die beiden Schriftsteller Rainer Maria Rilke und Oskar Maria Graf erlebten in München die Novemberrevolution und die bayerische Räterepublik.

  • Ralf Höller
  • Lesedauer: 13 Min.

»Rilke …!‹ Alle Studentinnen und Kunstgewerblerinnen, die blonden baltischen Baronessen und die angealterten, meist sehr reichen Literaturdamen in München von 1917 bis 1920 hauchten diesen Namen jedesmal schwärmerisch aus sich heraus, so, als handle es sich dabei um etwas Kultisches.« Oskar Maria Graf musste die religiös-spirituelle Sphäre bemühen, um den Dichterkollegen und Zweitvornamensvetter zu erklären. Rainer Maria Rilkes »höchst intensive Ausstrahlung auf Frauen« hat er ihm nicht nur zeitlebens, sondern selbst ein Vierteljahrhundert nach dessen Tod noch geneidet, als Graf zum runden Gedenktag diese Zeilen schrieb.

Mit Rilkes Äußerem ließ sich der Schlag bei Frauen nicht erklären. Sein Antlitz mit »krankhaft herausgedrückten, großen, kugeligen, sehr hellblauen Augen« erschien Graf als »ein asiatisches Gesicht, lethargisch in seiner Hässlichkeit ergeben.« Es war eher der Ausdruck, der Eindruck machte: Rilkes Wesen deuchte Graf »mönchisch geduldig.« Ähnliche Züge erkannte Claire Goll. Rilkes zeitweise Geliebte sah sich einem »Erzengel im Jackett« gegenüber, in seinen »von unirdischem Glanz erfüllten Augen zuckte der Strahl der Genialität.«

Beide, Graf und Goll, lernten Rilke in dessen Schaffenskrise kennen. Seit der Weltkrieg ausgebrochen war, hatte der gefeierte Autor des »Stunden-Buchs« und des »Malte Laurids Brigge« seinem umfangreichen Oeuvre keine weitere Zeile hinzugefügt. Die Duineser Elegien harrten der Vollendung, doch äußern mochte sich der Dichter nur in seinen zahlreichen Briefen und in persönlichen Gesprächen.

In München kreuzten sich Grafs und Rilkes Wege häufiger. Das letzte Kriegsjahr war eingeläutet, die russische Oktoberrevolution warf ihre Schatten voraus. Graf hatte nach absolvierter Bäckerlehre und dienstuntauglichkeitsbedingter Entlassung aus der Armee im Mai 1917 die fünf Jahre ältere Karoline Bretting geheiratet; einen Monat später kam Tochter Annemarie zur Welt. Längst war die Verbindung zum Scheitern verurteilt; bald diente die Ehe samt Verpflichtungen Graf nur noch als Vorwand, warum er seinen künstlerischen Neigungen nicht nachkommen konnte.

Rilke hatte den Sommer auf Gut Böckel im Lipperland und den Herbst in Berlin verbracht, bevor er sich wieder in München niederließ; zunächst im Hotel Continental, später in der Schwabinger Ainmillerstraße. Die Wohnung stellte ihm Hertha Koenig zur Verfügung, die große Literaturförderin, die ihn bereits auf ihrem lippischen Anwesen beherbergt hatte.

So sehr sich Graf und Rilke in Konstitution und Auftreten, ästhetischer Wahrnehmung und künstlerischer Wiedergabe unterschieden - hünenhaft groß, laut polternd, für jede Gaudi zu haben und eine brachiale Ausdrucksweise pflegend der eine, von zarter Gestalt, in sich gekehrtem Wesen, mit empfindlichen Antennen ausgestattet und sich in eleganter Poesie ergehend der andere - so übereinstimmend war ihre Reaktion auf die politischen Ereignisse des Jahres 1917, die nicht nur die alte Ordnung in Russland hinwegfegten, sondern bald auch die deutsche Monarchie zum Einsturz bringen sollten.

Rilke, seit einem von Lou Andreas-Salomé vermittelten prägenden Besuch bei Leo Tolstoi zutiefst russophil, begeisterte sich an der fortgesetzten Radikalisierung in Moskau und Sankt Petersburg. »Dieser Aufruf der Regierung vorgestern«, schwärmte er ein wenig atemlos gegenüber der Frau seines Verlegerin, Katharina Kippenberg, »mit der Überschrift ›an alle, die leiden und ausgenutzt worden sind‹ … dies als Sprache einer Regierung: neue Zeit, Zukunft, endlich!« Rilke im Stakkato - die Russische Revolution machte es möglich.

Kaum weniger beeindruckt zeigte sich Graf. Am 7. November prangte ihm auf einer Zeitung die Schlagzeile »Arbeiter- und Bauernregierung in Russland« entgegen. »Jetzt muss es bei uns auch bald angehen«, frohlockte er, »vielleicht schon heut’ oder morgen!« Doch es sollte noch ein ganzes Jahr bis zu einem Umsturz in Deutschland vergehen.

Das Revolutionsjahr 1918 begann mit einem Generalstreik. In München wurde er organisiert von Kurt Eisner, Mitbegründer der pazifistischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USP in Bayern, USPD im Reich). Graf kannte Eisner von seinen Auftritten in der Ludwigvorstadt. Dort, in der Gaststätte Goldener Anker, scharten sich jeden Montagabend die Münchner Kriegsgegner um den mitreißenden Redner.

Rilke sollte Eisner bald persönlich kennenlernen. Die Initiative ging von Hertha Koenig aus. Rilkes Wohnungsgeberin plante ein Hilfswerk. Um die sich rapide verschlechternde Versorgungslage in deutschen Großstädten abzumildern, sollten Ernteüberschüsse kostenlos an Notleidende verteilt werden. Die Idee kam gut an bei den Getreidebaronen, nur bei der Umsetzung haperte es. Ein Experte musste her, um alles zu koordinieren. Dabei hatte Koenig an Eisner gedacht. Rilke vermittelte einen Termin im Hotel Continental. Aus dem Projekt wurde schließlich nichts, auch weil Eisner nach Koenigs Geschmack zu sehr auf einen persönlichen Prestigegewinn aus war.

Für das Treffen hatte Eisner einen wichtigen Termin sausen lassen. Im »Goldenen Anker« ließ er sich an jenem Montag durch Ernst Toller vertreten. Der angehende Dichter und überzeugte Pazifist machte seine Sache offenbar gut. Graf fühlte sich in seinen Überzeugungen derart bestätigt, dass er am nächsten Morgen einen Plan umsetzte, den er seit einiger Zeit mit sich herumtrug. In der Theresienstraße, bei der Druckerei Mannzmann & Co., gab Graf ein Manuskript ab, das er fünftausendfach kopiert haben wollte. Es handelte sich um die Denkschrift, mit der Fürst Karl von Lichnowsky die Reichsregierung, der er die Schuld am Kriegsausbruch gab, herausforderte: Um den Schaden möglichst zu begrenzen, müssten sofortige Friedensverhandlungen her und jegliche Annexionspläne begraben werden.

Was Graf nicht wusste: Inzwischen hatte der Drucker die politische Polizei informiert. Als Graf die Flugblätter abholen wollte, schnappte die Falle zu und wenig später ein Handschellenpaar ein. Graf wanderte ins Gefängnis. Mit viel Schauspielkunst gelang es ihm, den Ahnungslosen zu mimen, dem die Brisanz der Lichnowskyschrift nicht geläufig war. Graf kam unter Auflagen wieder frei, blieb aber unter polizeilicher Beobachtung. Immerhin konnte er sich jetzt intensiv seiner dichterischen Karriere widmen und auch mal an eine Veröffentlichung denken.

Auftrieb erhielt Graf durch einen Gönner: Roman Woerner, Germanistikprofessor an der Münchner Universität, half mit einem monatlichen Stipendium von hundert Mark aus. Als es endete, sprang seine geschiedene Frau ein und verdoppelt den Betrag - auch, weil Rilke ein gutes Wort für den noch nicht aufgegangenen Stern am Literaturhimmel eingelegt hatte: Woerners Ex-Frau war niemand anderes als die Rilke-Mäzenin Hertha Koenig.

Auch in der Liebe wandelten Graf und Rilke auf gemeinsamem Pfad. Graf lernte Mirjam Sachs kennen, eine begeisterte Rilkeleserin, die ihrerseits für kurze Zeit von dem Dichter angehimmelt worden war. Rilke hatte Mirjam sogar einmal ein Gedicht aufgeschrieben, »Requiem für einen Knaben«; ein einziges Mal vorgetragen, aber nie veröffentlicht, wurde es in seinem Nachlass gefunden. Nun verlegte sich Graf aufs Gedichteschreiben, auch um der neuen Geliebten zu imponieren. Resultat war der Band »Die Revolutionäre«, ein zwölf Seiten schmales Konvolut, erschienen im »Dresdner Verlag von 1917«.

Persönlich begegneten sich Graf und Rilke wieder am 4. November. Im Hotel Wagner, auf halbem Weg zwischen Stachus und Sendlingertorplatz, hörten sie sich mit rund tausend weiteren Gästen einen Vortrag Max Webers an. Der Nationalökonom war erst kurz zuvor von der Heidelberger an die Münchner Universität berufen worden. Rilke tauchte gern in die Atmosphäre mit ihrem »Dunst aus Bier und Rauch und Volk« ein, berichtete er seiner getrennt von ihm lebenden Frau Clara. Offenbar genoss Rilke die Anonymität. »Niemand kannte ihn«, rief sich Graf Abende wie diesen in Erinnerung, »und das war ihm am liebsten. Er drängte sich nie nach vorn, an die Rednertribüne; er blieb unauffällig inmitten der stauenden Menge und verschwand ebenso unauffällig wieder.«

Ganz anders Graf: Er hielt sich zuverlässig dort auf, wo gerade am meisten los war, und hatte ein untrügliches Gespür für die großen Momente. So auch drei Tage nach der Versammlung in den Wagner-Sälen: Auf der Theresienwiese hatte die bayerische SPD zu einer Demonstration aufgerufen, die aus dem Ruder lief. Während der gemäßigte Teil anschließend brav nach Hause ging, zog der große Rest, von Eisner angeführt, in die Stadt und besetzte Kasernen, Polizeipräsidium, Post, Telegrafenamt, Parlament und Presseredaktionen. Graf, nur wenige Schritte hinter Eisner, wähnte sich auf einer Volksgaudi: »›Aus ist’s! Revolution! Marsch!‹, hörte ich im Tumult. Ein Älpler juchzte wie beim Schuhplatteln.« Tatsächlich hatte Graf soeben den Ausbruch der Revolution erlebt. Sie sollte 175 Tage währen und immer bizarrere Formen annehmen.

Wo war Rilke an jenem denkwürdigen Abend? Im Konzert! Die Stunden danach verbrachte er mit der Sängerin Augusta Hartmann und ein paar Freunden im Haus von Hertha Koenig. Später ärgerte er sich, keine Affäre mit Augusta Hartmann begonnen zu haben, aber mehr noch - ungewöhnlich für den frauenfixierten Rilke - nicht bei der Revolution dabei gewesen zu sein. Vom epochemachenden Ereignis erfuhr er wie die meisten Münchner aus der Zeitung. Würde nach Russland auch Bayern eine Diktatur des Proletariats bekommen? Die Aussicht ließ Rilkes Herz schneller schlagen; ob aus Freude oder Furcht, vermochte er noch nicht zu sagen. Er wusste nur, schrieb er an Clara, dass »die Zeit recht hat, wenn sie große Schritte zu machen versucht.«

Bald schon liefen sich Graf und Rilke erneut über den Weg, diesmal bei Alexander von Bernus. Im Schwabinger Salon des Anthroposophen sollte ein Politischer Rat geistiger Arbeiter gegründet werden, ein Forderung Eisners aufgreifend, die Revolution auf alle gesellschaftlichen Bereiche auszubreiten. Kunst durfte nicht mehr in Elfenbeintürmen stattfinden und Sache abgehobener Künstler sein. Stattdessen sollten Stirnarbeiter, unter Verzicht auf sämtliche Privilegien, Bildung und Wissen mit Handarbeitern teilen. Zu Letzteren zählte sich der gelernte Bäcker Graf trotz schriftstellerischer Versuche noch immer zugehörig. Wie enttäuscht aber war er von der Versammlung in der Karl-Theodor-Straße! »Lauter feine, gebildete Leute sah ich hier«, echauffierte er sich, »bei denen man roch, daß sie nie mit dem Volk was zu tun gehabt hatten.«

Einen der Anwesenden nahm Graf ausdrücklich von seiner Kritik aus. »Auch Rilke war da, doch er beteiligte sich nicht an den Diskussionen. Er stand schweigend abseits, in eine Ecke gelehnt«, und schien, obgleich völlig anderer Herkunft als Graf, ähnlich wie dieser zu urteilen. Dabei war ihm die Runde bei Bernus wie gerufen gekommen. In einer Räteorganisation mitzuwirken, geistiger Arbeiter zu werden, wäre das nicht eine Chance gewesen, seine liegengebliebenen Werke zu vollenden? Hatte der Krieg nicht zu einer Entfremdung von der Kunst geführt, vergleichbar einem Arbeiter, dem die industrielle Produktion die Freude am Produkt raubt? Rilkes Fazit geriet ähnlich wie das von Graf: »Alle die ›Geistigen Räte‹ verleiten wieder zum Verlassen des eigentlichen Könnens, sie stiften einen politischen Dilettantismus.« Selbstkritisch räumte Rilke jedoch ein, dass es von ihm »keine Gedichte giebt, die sich auch von Arbeitern lesen lassen.«

Rilke suchte nach anderen Betätigungsfeldern. An der Revolutionsfeier im Nationaltheater nahm er als Gast Teil und ließ sich von Eisners Rede inspirieren. Der Ministerpräsident hatte vom Beispiel gesprochen, das die bayerische Revolution der Welt geben sollte, indem sie Idee, Ideal und Wirklichkeit vereint. Auf Rilkes Schreibtisch fand sich nach seiner späteren Flucht aus München ein Zeitungsausschnitt. Es war ein Aufruf der Regierung, von Eisner unterzeichnet, den Rilke verwahrt und dessen erste Zeilen er mit blauem Stift markiert hatte: »Bayern ist befreit. Ungeahnte Kräfte regen sich, um an dem Werk des Aufbaues des neuen Volksstaates mitzuhelfen. Alles, was an verkümmerter Kraft, hoffnungsloser Sehnsucht in dumpfem Groll schlummerte, sieht jetzt, daß fortan für jeden Raum ist, an der Arbeit der Gemeinschaft sich zu betätigen. Das Leben gewinnt endlich Sinn und Zweck.«

Graf plagten nach dem Hochgefühl der Revolutionsnacht private Sorgen. Seine Frau Lina musste ins Krankenhaus. Hertha Koenig bot sich an, die kleine Tochter bei sich aufzunehmen. Rilke schaute öfter vorbei, weniger wegen Annemarie als wegen Augusta Hartmann. Mit Kindern im Säuglingsalter konnte Rilke wenig anfangen; sie taten ihm leid, weil sie sich kaum verständlich machen konnten. Graf brachte Annemarie schließlich bei seiner Mutter Resl am Starnberger See unter.

Die neu gewonnene Freiheit wollte Graf für ein ehrgeiziges Projekt nutzen. Hertha Koenig steuerte 2000 Mark für die Gründung eines politischen Vereins bei, den Bund freier Menschen. Doch schon die Auftaktveranstaltung im zu Beginn gut gefüllten Mathäser geriet zum Fiasko. Auch Rilke war in die Bayerstraße gekommen. Ob er bis zum Ende durchhielt? Rilke erwähnte die Veranstaltung später in einem Brief, wusste aber schon nicht mehr, um was genau es gegangen war.

Um dieselbe Zeit erhielt Rilke Post von Finanzminister Edgar Jaffé. Eine sozialistische Lehrerzeitung war in Planung, Rilke sollte bei der Suche nach einem Herausgeber und einem Verlag behilflich sein. Auf seine Initiative kann tatsächlich ein Kontakt zustande. Die Zeitung erschien ab dem Frühjahr regelmäßig im Dreiländerverlag. Es war ein letztes Engagement Rilkes in München. Bald verabschiedete er sich von der Revolution, die nach einem tödlichen Attentat auf Eisner ins Extreme driftete. Rilke sah sich, schrieb er an Dorothea von Ledebur »um das tiefe Aufatmen gekommen, das uns versprochen zu sein schien«.

Graf dagegen war die Revolution nicht radikal genug. »Diese Münchner Revolution war ein Gaudium für ihre Gegner. Sie war langweilig, sie war harmlos, sie war unerträglich. Sie war eine Posse, und noch dazu eine schlechte«, bilanzierte er die erste Phase in seiner Autobiografie »Wir sind Gefangene«. Aber es gab ja noch eine zweite und eine dritte Phase. Nach der Ermordung Eisners etablierte sich im April 1918 zunächst eine anarchistische, dann eine kommunistische Räterepublik. Graf macht eine gewisse Zeit bei der Pressezensur mit, was ihm beinahe zum Verhängnis werden sollte.

Auf Rilkes Schreibtisch lag seit Längerem ein Schreiben aus der Schweiz. Die Einladung des Lesezirkels Hottingen zu einem Vortrag in Zürich, zunächst für Ende November geplant, später immer wieder erneuert, erwies sich als eine Art Lebensversicherung. Sie ermöglichte es Rilke, einen Pass zu beantragen, mit dem er, nach viereinhalb Jahren unfreiwilligen Aufenthalts, aus Deutschland ausreisen konnte. »München ist so sehr zu Ende für mich«, teilte Rilke Annette Kolb mit und ließ tief in sein Inneres blicken, »wie ein Buch, das ich zwanzigmal im Gefängnis vom Anfang bis zum Schluß durchgelesen hätte.« Bis Rilke München wirklich verlassen konnte, sollten noch mehr als zwei Monate vergehen.

Sie waren angefüllt mit der Installierung eines Zentralrats zunächst sozialdemokratischer, dann linkssozialistischer Prägung, der Flucht der auf Eisner folgenden, vom Parlament gewählten Regierung unter dem Sozialdemokraten Johannes Hoffmann nach Bamberg, einem Putschversuch von rechts und der Regierungsübernahme der Kommunisten. Schließlich marschierten, nach einem Hilferuf Hoffmanns Richtung Berlin, Reichswehrtruppen und Freikorps in Bayern ein. Sie stießen auf heftigen Widerstand, es gab mehr als tausend Tote, viele von ihnen Opfer meist willkürlicher Siegerjustiz. Am 2. Mai waren Revolution und Räterepublik Geschichte. Vor allem die Vergeltungsmaßnahmen nach deren Niederschlagung - Rilke nannte sie »Ordnungsmacherei« - und der Beifall aus bürgerlichen Kreisen widerten Rilke an. Seinem Bankiersfreund Karl von der Heydt offenbarte er, »das ›Gift‹ war freilich arg und ein Gegenstand unabsehlichen Mißbrauchs, aber der Jubel zum ›Gegengift‹, wie ihn der Bürger aufbringt, ist für mich doch erst das eigentlich Unmenschliche und Heillose.«

Graf geriet jetzt erst recht in die Bredouille. Ihm wurde sein Mitwirken in der Zensurbehörde vorgeworfen. Er landete in Stadelheim, dem Gefängnis, in dem zuvor der Anarchist Gustav Landauer ermordet und später auch der Anführer der Kommunisten, Eugen Leviné, hingerichtet wurde. Hertha Koenig und Roman Woerner setzten sich sofort für Graf ein. Seine Freilassung nach knapp zwei Wochen verdankte er jedoch einer weiteren Fürsprache.

Grafs Rechtsanwalt Ernst Seidenberger hatte sich an Rilke gewandt, mit der Bitte um Unterstützung. Rilke zögerte keinen Moment. In seinem Antwortschreiben deutete er Grafs politisches Engagement als »Weg rein menschlicher Verständigung«, der »seinem Ideale entsprach«, und bescheinigte Graf etwas verschwurbelt, dass dieser »sich dafür opfern könnte, Gewalt zu verhindern.« Abschließend wünschte sich Rilke »von Herzen, daß dieser ernste und begabte junge Schriftsteller recht rasch seiner Thätigkeit wiedergegeben« werden sollte. Kurz bevor Rilke in die Schweiz aufbrach, erreichte ihn Grafs Dankesbrief. Mit München versöhnen konnte ihn die positive Nachricht nicht. Nie wieder sollte Rilke einen Fuß in die Stadt setzen.

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