- Kommentare
- Freiwillige Selbstverpflichtung
»Diese Menschen haben faktisch ...
Kathrin Gerlof über eine kapitalistische Wohlfühlerfindung namens freiwillige Selbstverpflichtung
… kaum eine Möglichkeit, ihre Lohnansprüche gerichtlich durchzusetzen.« Das Deutsche Institut für Menschenrechte war Ende des vergangenen Jahres, als es den jährlichen Bericht vorstellte, nicht sonderlich optimistisch. Allerdings ging es an dieser Stelle bei ihrer Einschätzung der Menschenrechtssituation im hochentwickelten Industrieland Deutschland nur um Arbeitsmigranten. Also nicht um uns. Schwere Arbeitsausbeutung sei bei diesen Menschen und hierzulande ein risikoloses Geschäft. Sagt der Bericht. Was man den Unternehmen, die ansonsten ja viele Risiken eingehen müssen, schon mal gönnen sollte. Wenigstens ein Geschäft, bei dem nix passieren kann. Auch wenn schwere Arbeitsausbeutung ein bisschen unschön nach Sklaverei klingt. Modern natürlich.
Der Bericht ist Schnee vom vergangenen Jahr. Oder noch schöner: Was er erzählt, ist Schnee von vorvorgestern. Aber da jedes Jahr mit guten Vorsätzen beginnt, sei in dieser ersten Kolumne 2019 an eine schöne und liebenswerte Tradition nicht nur deutscher Politik und Lobbyarbeit erinnert: die freiwillige Selbstverpflichtung.
Also zum Beispiel wurde im vergangenen Jahr mal wieder über eine sogenannte Zuckersteuer debattiert, weil der ganze Süßkram in den Supermarktregalen irgendwie zu steigenden Zahlen von Diabetes- und anderen schlimmen Erkrankungen führen soll. Bevor es jedoch ans Eingemachte ging, also gesetzliche Vorgaben überlegt wurden, griffen Discounter und Produzenten zu dem probaten Mittel der freiwilligen Selbstverpflichtung. Eine Kernstrategie, wie die Organisation foodwatch sagt, um verbindliche Vorgaben zu umgehen oder besser noch: gleich zu verhindern. Bei Cola und Eistee zum Beispiel soll der Zuckergehalt in einem ersten Schritt um fünf bis acht (sic!) Prozent gesenkt werden. Lidl hat schon letztes Jahr begonnen, »jeden Joghurt zu überarbeiten«. Wir dürfen gespannt auf weitere Erfolge, sollten aber auch nicht allzu optimistisch sein.
Im September 2015 zum Beispiel unterzeichneten sechs Unternehmen der Fleischwirtschaft mit einem Marktanteil von immerhin doch 60 Prozent eine Selbstverpflichtung »für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft. Weitere Unternehmen traten der Selbstverpflichtung (kannste machen, kannste aber auch lassen) bei. Versprochen wurde unter anderem, dass die in den Fleischbetrieben eingesetzten Beschäftigten künftig alle in einem in Deutschland gemeldeten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis arbeiten.
Donnerwetter, haben vielleicht schon damals manche gedacht. Das ist ja fast, als würde ich mich verpflichten, ab morgen nicht mehr andere Leute zu bescheißen, was ja schön ist, aber irgendwie auch nach dem Eingeständnis klingt, es bis heute fleißig getan zu haben. Wenn 2018 das Institut für Menschenrechte feststellt, dass auch die fleischverarbeitende Industrie zu jenen Branchen gehört, in denen schwere Arbeitsausbeutung nichts Ungewöhnliches sei, kommen Zweifel auf am scharfen Schwert «Freiwillige Selbstverpflichtung».
Seit mehr als vier Jahren verhandelt die Bundesregierung mit Textilunternehmen, um den in Asien für unseren Wohlstand arbeitenden Menschen bessere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Bewegt hat sich, wie der zuständige Entwicklungsminister Gerd Müller feststellen muss, kaum etwas. Er sieht bei dem großartigen und von ihm begründeten «Textilbündnis» keine «qualitativen Sprünge auf Seiten der Wirtschaft». Wer hätte das gedacht. Es genügt doch sonst - siehe RWE, Hambacher Forst, Atomkraftbetreiber, Rüstungsunternehmen usw. usf. - ein kleiner Anstoß des Anstandes, und schon ändert die Industrie ihre Strategie in die richtige Richtung.
Warum es ausgerechnet bei H&M, Zara, Tchibo und Primark nicht klappt? Weiß der Himmel. Vielleicht liegt es an uns und wir überschätzen die Bedeutung existenzsichernder Löhne. Hauptsache ist doch, dass hin und wieder die Sonne scheint.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.