Vermögensrekorde bei wachsender Armut

Oxfam: Ungleichheit führt zu Mängeln im Bildungs- und Gesundheitswesen und so zu Geschlechterungerechtigkeit

  • Vanessa Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst weiter: Im vergangenen Jahr sind die Vermögen der Milliardär*innen weltweit um zwölf Prozent gestiegen, während die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung Einbußen von elf Prozent erlitten hat. Umgerechnet entspricht das einem Plus der Vermögenden von durchschnittlich 2,5 Milliarden US-Dollar pro Tag, die ärmere Welthälfte verlor dagegen im Schnitt 500 Millionen Dollar pro Tag. Diese Zahlen gehen aus dem Bericht »Public Good or Private Wealth« hervor, den die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam an diesem Montag anlässlich des bevorstehenden Weltwirtschaftsforums in Davos vorstellt.

Laut den Berechnungen hat sich die Zahl der Milliardär*innen in den vergangenen zehn Jahren weltweit nahezu verdoppelt. Gleichzeitig können sich immer weniger Menschen aus extremer Armut befreien: Das Tempo, in dem extreme Armut abnimmt, hat sich seit 2013 halbiert. In Teilen Afrikas steigt die extreme Armut sogar wieder an. Als extrem arm gilt laut Weltbank, wer weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat.

stärkt unabhängigen Journalismus
Jeden Tag lesen rund 25.000 Menschen unsere Artikel im Internet, schon 2600 Digitalabonennt*innen und über 500 Online-Leser unterstützen uns regelmäßig finanziell. Das ist gut, aber da geht noch mehr! Damit wir weiterhin die Themen recherchieren können, die andere ignorieren und euch interessieren. Hier mitmachen!

Auch in Deutschland ist die Vermögens- und Einkommensungleichheit weiterhin auf hohem Niveau, die Armutsquote befindet sich sogar auf einem Höchststand: Das reichste Prozent der Deutschen verfügt laut Oxfam über ebenso viel Vermögen wie die 87 ärmeren Prozent der Bevölkerung. Im europäischen und internationalen Vergleich zählt Deutschland damit zu den Industrienationen mit der größten Vermögensungleichheit.

Im Zentrum der diesjährigen Studie steht deshalb der Zusammenhang zwischen den horrenden Vermögenszuwächsen der Superreichen sowie der Unterfinanzierung bei öffentlichen Gütern in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung, unter denen laut Oxfam vor allem Frauen und Mädchen litten: Im weltweiten Durchschnitt besitzen sie immer noch 50 Prozent weniger Vermögen als Männer und beziehen um 23 Prozent niedrigere Gehälter. Neben diskriminierenden Regelungen im Arbeits-, Steuer-, und Erbrecht müsse die Benachteiligung von Frauen auch im Zusammenhang mit der durch Steuervermeidung hervorgerufenen Unterfinanzierung in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung gesehen werden, heißt es im Bericht. So liege das größte Hindernis für Geschlechtergerechtigkeit heute in der Tatsache, dass Frauen weltweit die Last der Mängel im Gesundheits- und Bildungsbereich tragen: Sie leisten pro Jahr Pflege- und Sorgearbeit im Wert von zehn Billionen US-Dollar, ohne dafür bezahlt zu werden. Die Zeit, die Frauen mit kaum anerkannter Sorgearbeit verbringen, fehlt ihnen, um Einkommen zu erwirtschaften und sich weiter zu qualifizieren. Durch die unbezahlten Zusatzaufgaben mangele es ihnen an Zeit, sich in politische Prozesse einzubringen und so eigenen Interessen Gehör zu verschaffen. »Ein Wirtschaftssystem, das unbezahlte Sorgearbeit nicht anerkennt, wertschätzt und umverteilt, ist nicht gerecht - es ist vorrangig von Männern für Männer gemacht«, heißt es im Bericht.

Daneben beklagt Oxfam, dass Regierungen weltweit in den letzten Jahrzehnten Konzerne und Vermögende »mit dicken Steuergeschenken beglückt haben«. So sind in reichen Ländern zwischen 1970 und 2013 die Spitzensteuersätze auf Einkommen von durchschnittlich 62 auf 38 Prozent gefallen. In einigen Ländern, darunter Großbritannien und Brasilien, wenden die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung einen höheren Anteil ihres Einkommens für Steuern auf als das reichste Zehntel. »Konzerne und Superreiche können sich weiterhin in vielen Ländern um ihren gerechten Steuerbeitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens drücken«, erklärt Jörn Kalinski, Kampagnenleiter von Oxfam Deutschland. »Dieses Geld fehlt, um in öffentliche Bildungs- und Gesundheitssysteme zu investieren.« Extreme Ungleichheit sei dennoch kein Naturgesetz, sondern Folge einer verfehlten Politik. »Und diese Politik müssen wir im Jahr der Europawahl verändern«, so Kalinski.

Konkret fordert Oxfam von der Bundesregierung sowie der EU, Konzerne und Vermögende angemessen zu besteuern und Steuervermeidung zu stoppen. Dies könne etwa durch schwarze Listen oder wirksame Sanktionen gegen Steueroasen sowie die Einführung eines EU- oder weltweiten Mindeststeuersatzes gelingen. Gleichzeitig müsse mehr Geschlechtergerechtigkeit geschaffen werden, etwa durch Abschaffung benachteiligender Regelungen im Erb-, Steuer- und Arbeitsrecht. Deutschland sei im europäischen Vergleich eines der Länder mit dem höchsten Gender Pay Gap, also der größten Ungleichheit der Gehälter zwischen Männern und Frauen. »In der EU ist Deutschland beinahe Schlusslicht. Nur Estland und Tschechien liegen noch dahinter«, sagt Ellen Ehmke, Expertin für soziale Ungleichheit.

In der Entwicklungszusammenarbeit müssten die Mittel zur Unterstützung öffentlicher Bildungs-, Gesundheits- und sozialer Sicherungssysteme erhöht werden. Dafür sollten die Einnahmen aus einer breiten Finanztransaktionssteuer genutzt werden. Private, gewinnorientierte Bildungs- und Gesundheitsanbieter im Globalen Süden dürften dahingegen keine weitere Förderung erhalten. Zuletzt fordert Oxfam von der Bundesregierung, sich auch beim Internationalen Währungsfonds gegen Spardiktate einzusetzen. So würden betroffene Länder im Globalen Süden Spielraum erhalten, Armut und Ungleichheit zu bekämpfen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.