- Serienkiller
- Charité
Götter in Grau
Die ARD startet die zweite Staffel von »Charité« mit Ulrich Noethen als Ferdinand Sauerbruch
Nach Jahrzehnten deutscher TV-Geschichte gibt es nicht allzu viele Gewissheiten, aber diese drei dürfen getrost als belegt gelten: Sonntagabends scheint beim ZDF stets die Sonne, während parallel im Ersten Verbrecher gejagt werden und Nazis hingegen auf jedem Kanal als disziplinierte Sadisten auftreten. Letzteres ist daher auch in »Charité« üblich. Die zweite Staffel der Serie setzt am Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Max de Crinis zum Beispiel, mit niederträchtigem Charme verkörpert von Lukas Miko, ist ein Prachtexemplar von Herrenmenschenschwein! Und auch der legendäre Prof. Sauerbruch kommt nicht gut weg; Ulrich Noethen verpasst ihm eine Grandezza von tiefbrauner Selbstgerechtigkeit.
Solche Funktionsträger verengen die neueste Fiktionalisierung deutscher Schuld zunächst so konsequent auf den Typus Führungsclique, dass der mitlaufende Rest die Hände schön in Unschuld waschen darf. Dann aber betritt die nette Medizinstudentin Anni (Mala Emde) mit prallem Babybauch den Hörsaal und huldigt nicht nur artig dem NS-Staat; auch ihr goldiger Gatte (Artjom Gilz) ist als Oberarzt so linientreu, dass er seine Karriere mit Experimenten an behinderten Kindern vorantreibt und das erste der eigenen glatt Adolf nennen will. So weit, so ungewöhnlich fürs öffentlich-rechtliche Historytainment zu derart prominenter Sendezeit.
Doch die ARD wäre nicht die ARD, würden solche Hauptfiguren keine Wandlung zum Besseren durchmachen. Weil die Tochter nach schwerer Geburt deformiert ist, ein Kamerad ihres regimekritischen Bruders Otto (Jannik Schümann) wegen Selbstverstümmelung verurteilt wird und der große Sauerbruch, ja selbst die Charité-Patientin Magda Goebbels deutlich hörbar am Endsieg zweifeln, schlägt der fröhliche Fanatismus des arischen Poster-Paars mit jeder der sechs Folgen mehr in zarten Skeptizismus um.
Alles wie immer also im hiesigen Exkulpationsentertainment? Mitnichten! Im Gegensatz zu Sönke Wortmanns pappeflach opulenter Auftaktstaffel verleiht Anno Saul den Charakteren (Drehbuch: Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann) eine Persönlichkeit jenseits drolliger Klischees starker Frauen im Männerzirkel. Während Alicia von Rittberg die eifrige Schwester Ida vor zwei Jahren noch verkitschen musste, darf Mala Emde ihre angehende Ärztin Anni mit weit weniger Sinnesreiz verkleistern. Und Ulrich Noethen dürfte für seine Darstellung des cholerischen Genies Ferdinand Sauerbruch, den er als Getriebenen seiner ungezügelten Geltungssucht im Dauerclinch mit dem hippokratischen Eid spielt, schon jetzt auf der Liste aller Fernsehpreisjurys stehen.
War »Charité 1«, im Dreikaiserjahr 1888 einsetzend, eine Nummernrevue plakativ befriedigter Sehnsüchte nach dem Guten im Alten, fordert »Charité 2« das Publikum trotz allen Kitsches spürbar intellektuell heraus. Zwölf Jahre nach reaktionärem Geschichtsquark à la »Die Flucht« interessierten sich viele Zuschauer ja »mehr für Grautöne als das Schwarz-Weiße«, sagt Autorin Schön und erinnert an das Sauerbruch-Biopic von 1954, das das »kollektive Verdrängungsbedürfnis« bediente, indem es dem Publikum Sauerbruch als »väterlichen Halbgott in Weiß« präsentierte. Um nicht zu überfordern, bedarf Primetime-Unterhaltung natürlich auch 2019 einer gewissen Emotionalität. In Zeiten aber, da neue Nazis die NS-Zeit als Vogelschiss verharmlosen, kann gutes Serienfernsehen zeigen, dass die vermeintliche Randnotiz der Geschichte den Umfang eines ganzen Reiches hatte und selbst das Gute unter sich begrub.
ARD, 20.15 Uhr
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