Als der Sommer plötzlich vorbei war

Sechs Monate nach den »Ereignissen von Chemnitz« ringt die Stadt noch - und aufs Neue - mit deren Ursachen

  • Hendrik Lasch, Chemnitz
  • Lesedauer: 7 Min.

Im September 2018 war Dietmar Berger auf einer Tagung in der Schweiz. Es ging um die Rolle von Genossenschaften; Berger, der jahrelang einen ostdeutschen Verband aus der Branche geführt hatte, sollte eine Rede halten. Vor ihm sprachen Referenten aus Thailand, Australien, Japan. Zehn Reden gab es, in neun davon tauchte der Name einer Stadt auf: Chemnitz.

Berger ist Chemnitzer, »von Geburt und aus Überzeugung«, wie er sagt. An jenem Tag in der Schweiz gab es wenig Grund, darauf stolz zu sein. Über die knapp 250 000 Einwohner zählende Großstadt in Sachsen wurde nicht geredet wegen ihrer reichen Industriekultur oder weil sich die alte Metropole für Erfindergeist und Ingenieurskunst nach einem Kahlschlag vor 30 Jahren wirtschaftlich wieder berappelt hat. Statt dessen redete man in der Schweiz darüber, wie in Chemnitz Ausländer gehetzt worden waren; wie Nazis und Hooligans die Straßen besetzt und Polizei und Presse attackiert hatten; wie »normale« Bürger und Familien mit Kindern sich Aufzügen Rechtsextremer angeschlossen hatten. Berger spricht sarkastisch von »Verführten« und fügt an: »So etwas hätte ich mir in meinen schlimmsten Träumen nicht ausgemalt.«

»Vieles, was sich in Chemnitz entwickelt hatte, wurde geköpft.«

Die »Ereignisse von Chemnitz«, wie mit Blick auf die Tage im August und September gern vage formuliert wird, waren für viele Bürger ein Schock. Die Stadt hatte zuvor einen »schönen Sommer« erlebt, sagt Klaus Kowalke, Betreiber der Buchhandlung »Lessing & Kompanie« im Gründerzeitviertel Kaßberg: Konzerte, Lesungen, Ausstellungen allerorten; ein Vorgeschmack auf das Jahr 2025, in dem Chemnitz europäische Kulturhauptstadt werden will. Dann starb beim Stadtfest ein junger Mann nach einer Messerattacke von Flüchtlingen. Einer von ihnen steht ab diesem Montag in Dresden vor Gericht. Durch die Tat geriet Chemnitz in Aufruhr. Die bundesweite extreme Rechte nutzte den Vorfall als Plattform für Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit. Danach gaben sich in Kowalkes Laden Journalisten aus ganz Deutschland und dem Ausland die Klinke in die Hand. Sie fragten nicht, wie eine Industriestadt kulturell belebt wird, sondern wollten wissen, wie braun deren Einwohner sind. Es war, sagt Kowalke, »als ob es den schönen Sommer nie gegeben hätte«.

Gabriele Engelhardt sagt es drastischer: »Vieles, was sich in Chemnitz entwickelt hatte, wurde geköpft.« Am 1. Mai etwa war ein Aufmarsch der Nazi-Kleinpartei »Dritter Weg« auf viel Widerstand von Bürgern gestoßen. Engelhardt, Ex-Sprecherin von »Chemnitz nazifrei«, freute das. Sie weiß, dass es in Chemnitz ausgeprägte rechte Strukturen gibt und die Stadt nicht zufällig Zuflucht für das Terrortrio NSU wurde: Hooligans, die sich »NS Boys« nennen; dazu rechte Labels und Versandhändler; von Nazis gegründete Securityfirmen; die rechte Fraktion »Pro Chemnitz« im Stadtrat.

Es gibt aber auch Engagement dagegen: den Chemnitzer »Friedenstag« etwa, der jährlich rund um den Jahrestag der Kriegszerstörung am 5. März 1945 stattfindet und Weltoffenheit propagiert. Auch das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus«, in dem sich Engelhardt seit 2016 engagiert, stößt auf Zuspruch. Es bildet »StammtischkämpferInnen« aus, die Rassismus im Alltag entgegen treten wollen. Der hat sich seit der Ankunft vieler Flüchtlinge 2015 und islamfeindlichen Demonstrationen noch einmal verstärkt und brach sich in Chemnitz nach dem Todesfall beim Stadtfest massiv Bahn. Dass es ihn gab, hat Engelhardt »nicht überrascht«. Was sie »geschockt« habe, sei, »wie viele Menschen ungeniert Nazis nachlaufen«.

Verständnis hat Engelhardt dafür nicht, aber Erklärungen. Viele Menschen hätten »zu Recht das Gefühl, dass etwas schief läuft« in Gesellschaft und Politik, sagt sie. Löhne und Renten sind im Osten noch immer niedriger als im Westen. Sie erinnert an die Finanzkrise 2007, in deren Folge Sachsen 2,75 Milliarden Euro für die Rettung der Landesbank berappen musste, nachdem diese mit Spekulationen am Kapitalmarkt ruiniert wurde. Der Staat gebe »Milliarden für die Rettung von Banken aus und betreibt zugleich Sozialabbau« - was für Frust sorgt. Er ist ein Einfallstor für Rassismus. Statt die Verhältnisse zu ändern, wird »nach unten getreten«.

Chemnitz und Ostdeutschland

In einer ostdeutschen Stadt wie Chemnitz kommt ein weiterer Aspekt hinzu, sagt Franz Knoppe. Er arbeitet in einem Verein, der im November das Theaterfestival »Aufstand der Geschichten« ausrichtete. Er beobachtet eine im Vergleich zum Westen weniger ausgeprägte Zivilgesellschaft, was auch an Eigentumsverhältnissen liege. »Wir sind oft nur Mieter und Kunden statt Besitzer«, sagt er - was zu einem Gefühl des Abgehängtseins beitrage. Die Frage, wem »die Stadt gehört«, führe in Chemnitz wie anderswo in Ostdeutschland zu problematischen Antworten. »Viele glauben den Erzählungen der Rechten, wonach sie ohnmächtig im eigenen Land seien und die Migranten an allem die Schuld trügen«, sagt Knoppe. Dieser Glaube an einfache Antworten habe sich im Sommer 2018 bei einem erschreckend großen Teil der Bevölkerung »extrem negativ ausgedrückt«: in offenem Neonazismus.

Seit sechs Monaten ringt die Stadt nun mit der Frage, wie sie damit umgehen und was sie dem entgegen setzen soll. Positiv sei, sagt Knoppe, dass Rathausführung und kommunale Politik »schnell und öffentlich Haltung gezeigt« hätten. Noch 2016 war das anders. Da gab es einen Anschlag auf das »Lokomov«, einen alternativen Klub nicht weit von Knoppes Büro. Es liegt im Stadtteil Sonnenberg, wo es eine bunte Vielfalt von Ateliers, Gemeinschaftsgärten, kulturellen Initiativen und eben auch das »Lokomov« gibt, den aber zugleich Rechtsextreme lange Zeit als »Nazikiez« für sich reklamierten. Das dürfte der Hintergrund für den Anschlag gewesen sein. Dass er nie aufgeklärt wurde, kritisiert Knoppe ebenso wie eine fehlende Solidarisierung der Stadtspitze. Das sei 2018 anders gewesen.

Zivilgesellschaft steht auf

Auch in der Bürgerschaft gab es nach den »Ereignissen« eine enorme Vielfalt von Initiativen, teils mit Hilfe von außerhalb. Buchhändler Kowalke etwa erhielt neben ermutigenden Anrufen auch Angebote von Verlagen, engagierte Autoren in die Stadt zu schicken. Im November las zum Beispiel Carolin Ehmcke, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in einem Chemnitzer Kino aus ihrem Buch »Gegen den Hass« - vor vollem Haus. Generell sei das Interesse an Debatten und Foren in der Bürgerschaft gewachsen, die Kulturszene in der Stadt »deutlich politischer« geworden, sagt Kowalke. Die Ansicht teilt auch Franz Knoppe. Viele Kulturschaffende »reden offen über die Probleme und stellen klare Forderungen«, sagt er; Initiativen und Vereine richteten, unterstützt durch eine Erhöhung entsprechender Fördermittel, zahlreiche Workshops, Seminare und Veranstaltungen aus. Mehr, sagt Knoppe, kann »die Zivilgesellschaft kaum noch machen«.

Auch die Kommunalpolitik hat ihre Lektion gelernt, sagt Dietmar Berger, der Vizechef der LINKE-Fraktion im Stadtrat ist. Um Gräben in der Bürgerschaft zu überwinden, ersann man Dialogforen, stärkte Bürgerinformation und -beteiligung. Es ist ein Weg, den nicht alle in der Stadt gutheißen. »Das Verständnis für ›besorgte Bürger‹ hat zur Normalisierung ihrer Ansichten geführt«, kritisiert Gabriele Engelhardt. Gemeinsam mit anderen organisiert sie Widerstand gegen ein von »Pro Chemnitz«-Anführer Martin Kohlmann geplantes rechtes Begegnungszentrum im Stadtzentrum und warnt vor einer Verharmlosung rechter Mobilmachung. Es gebe zu viel Zurückhaltung etwa gegenüber einer Partei wie der AfD, weil diese demokratisch gewählt sei. »Für mich«, sagt Engelhardt, »ist es trotzdem eine faschistische Partei im Werden.«

Die vielen Dialogforen, sagt Berger, hätten aber immerhin dazu beigetragen, dass in der Stadt wieder über andere Themen geredet worden sei als Kriminalität, Ausländer und die Videoüberwachung der Innenstadt. Man habe fast den Eindruck gehabt, als sei es ruhiger geworden - als habe sich »Chemnitz aus dem Tal herausgekämpft«. Vielleicht »war das etwas einfältig«, fügt er hinzu - mit Blick auf das, was am Samstag vor einer Woche im Stadion des Chemnitzer FC passierte: öffentliche Trauerbekundungen für den verstorbenen Neonazi Thomas Haller auf den Tribünen. Es war wie der Aufmarsch im September ein Machtbeweis der Szene. An diesem Montag wird der nächste erwartet. Zur Beerdigung Hallers ist mit der Anreise Tausender Nazis und Hooligans zu rechnen.

Viele Bürger, sagt Franz Knoppe, seien »fassungslos, dass jetzt wieder alles aufbricht« - und verlangten entschlossenere Schritte. Es sei viel passiert im vergangenen halben Jahr; er habe aber »nicht den Eindruck«, dass rechte Strukturen etwa im Fanmilieu des CFC entschlossen bekämpft worden seien. »Warum gibt es keine Stadionverbote?!«, sagt er. Auch die Finanzierung der Szene über Securityfirmen, die womöglich auch von der Stadt angeheuert werden, sei zu klären. Der Stadtrat ringt um die Frage, wie man mit dem Klub umgeht, dem er nur Tage vor dem Eklat finanziell entgegengekommen war. Manche fordern, ihn fallen zu lassen. Berger hielte das für falsch: »Die rechten Fans verschwinden ja damit nicht.« Was aber soll dann passieren? Nach Antworten sucht die Stadt. Noch - und nun wieder aufs Neue.

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