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Mitwisser der Todesmärsche
Ein Historiker erforschte, wie die KZ-Häftlinge in den Dörfern behandelt wurden.
Spätestens jetzt durfte niemand mehr behaupten, er habe von den Naziverbrechen nichts gewusst. Über Land, mitten durch die Dörfer trieb die SS in der Endphase des Zweiten Weltkrieges die KZ-Häftlinge, pferchte sie nachts in Scheunen oder auf Sportplätze, erschoss die Erschöpften, die nicht mehr weiterkonnten, ließ die Leichen teilweise am Straßenrand liegen - weshalb später von Todesmärschen gesprochen wurde.
Die Bevölkerung schaute zu. Selten half jemand mit Wasser und Brot. Dass Entflohene versteckt und so gerettet wurden, das war die Ausnahme - die Menschen zu denunzieren und an die SS auszuliefern, war die Regel. In mehr als einem Ort machten Volkssturm, Reichsarbeitsdienst und Hitlerjugend Jagd auf die KZ-Häftlinge. Auch Zivilisten schossen auf Häftlinge - zumindest aber vergruben sie eilig die Leichen, um keine Probleme zu bekommen, wenn sowjetische oder US-amerikanische Soldaten einrücken. Martin Clemens Winter bezeichnet die Ereignisse als das letzte nationalsozialistische Gesellschaftsverbrechen. Der Historiker hat seine Dissertation zur Rolle der deutschen Bevölkerung bei den Todesmärschen verfasst. Als dickes Buch ist es unter dem Titel »Gewalt und Verbrechen im ländlichen Raum« im Metropol-Verlag erschienen. Mörder, die nicht zu den Wachmannschaften gehörten, sind später am ehesten noch in der sowjetischen Besatzungszone verurteilt worden. Doch auch hier wurde nur ein Bruchteil der Täter zur Rechenschaft gezogen. Begünstigt wurde dies vielfach durch ein Kartell des Schweigens, das die Mörder unter den Nachbarn schützte.
Am 21. April 1945 trieb die SS mehr als 30 000 Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen auf einen Todesmarsch Richtung Nordwesten.
Für 132 im Belower Wald bei Wittstock umgekommene KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen war bereits 1945 auf dem Friedhof im nahe gelegenen Grabow ein Gedenkstein errichtet worden. Der erste Gedenkstein am Originalschauplatz, dem 1945 mit Stacheldraht und einer Postenkette gesicherten Waldlager, folgte im Jahr 1965.
1975 wurde im Belower Wald ein Mahnmal eingeweiht. Es steht heute noch.
Seit 1976 kennzeichnen 120 einheitliche Gedenktafeln die Routen des Todesmarsches zwischen Sachsenhausen und Schwerin, wo die Häftlinge befreit worden sind.
1981 wurde das Todesmarschmuseum eröffnet.
2002 erfolgte ein neonazistischer Brandanschlag auf das Museum, der einen der beiden Räume zerstörte.
2010 wurde die Gedenkstätte im Belower Wald nach einer Neukonzeption wiedereröffnet. Es gibt hier nun auch eine Freiluftausstellung.
Kürzlich stellte der Historiker Clemens Martin Winter in dieser Gedenkstätte sein Buch über die Todesmärsche und die deutsche Bevölkerung vor.
Insgesamt 714 000 KZ-Häftlinge gab es, als die Todesmärsche begannen. Unter ihnen befanden sich 202 000 Frauen. Zehntausende Häftlinge sind bei der Räumung der Konzentrationslager und auf den Transporten noch gezielt ermordet worden oder wegen der Strapazen zugrunde gegangen. af
Besonders eifrig beteiligten sich während der Todesmärsche die NSDAP-Ortsgruppenleiter an den Verbrechen der SS. Im brandenburgischen Herzsprung war es der Gastwirt Wilhelm Leppin, der 1933 in die Nazipartei eingetreten war. Als Kolonnen mit Häftlingen aus dem KZ Sachsenhausen das Dorf passierten, beherbergte er Wachmannschaften in seiner Gaststätte. Eine Frau, die vier Häftlinge entdeckte, die sich auf ihrem Anwesen verborgen hielten, schickte ihren kleinen Sohn zu »Onkel Leppin«, um diesen zu informieren. Leppin kam in Begleitung von zwei SS-Leuten. Es stellte sich die Frage, ob die Entflohenen ihrem Marschblock hinterhergebracht werden sollten. Leppin war dagegen. »Man weg mit diesen Polenschweinen«, soll er gesagt haben. Die Häftlinge wurden aus ihrem Versteck gezerrt, von Leppin geschlagen, dann aus dem Ort geführt und ermordet.
Bei der politischen Biografie von Leppin und anderen NSDAP-Ortsgruppenleitern mag dies nicht verwundern. Ein extremer Fall, in dem Jugendliche eine KZ-Gefangene über Stunden brutal zu Tode gequält hatten, wurde später in der DDR damit erklärt, die Jugend sei durch die menschenverachtende Nazipropaganda verdorben worden, der sie von klein auf ausgesetzt war. Schwer begreiflich ist dagegen, dass sich stellenweise sogar Männer an der Jagd auf KZ-Häftlinge beteiligten, die bis 1933 Mitglied der KPD gewesen waren. In einem Fall ist solch ein Ex-Kommunist später dafür härter bestraft worden als sein Mittäter aus der NSDAP, weil er sich nicht darauf herausreden konnte, ihm habe es an politischem Bewusstsein gemangelt.
Die Bevölkerung redete sich ein, die KZ-Häftlinge seien gefährlich, sie würden wehrlose Frauen vergewaltigen. Rassistische Vorurteile scheinen durch in den nach dem Krieg verfassten Berichten katholischer Priester aus Bayern an ihre Erzbistümer. Sie erheben Vorwürfe gegen die US-Truppen, weil diese befreite KZ-Häftlinge auf die Deutschen losgelassen hätten. Pfarrer in Sachsen weigerten sich, jüdische Häftlinge auf evangelischen Kirchhöfen beizusetzen. In der Bundesrepublik sind Augenzeugen der Todesmärsche mit den Jahren zu Opfern verklärt worden, weil sie Schreckliches ansehen mussten. Allerdings gab es auch Bürger, die das Leid der wirklichen Opfer erforschten und an sie erinnerten. Sie trafen sich in den 1980er Jahren in Geschichtswerkstätten, die auch Routen von Todesmärschen markierten, was in der DDR schon früher geschehen war.
Mitte April feiert die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten die Jahrestage der Befreiung der KZ Sachenhausen und Ravensbrück. Zum Programm gehört traditionell das Gedenken im Todesmarschmuseum im Belower Wald bei Wittstock, diesmal am 12. April von 14.30 bis 17 Uhr. Hier hatten sich im April 1945 die Wege verschiedener Marschkolonnen aus Sachsenhausen gekreuzt. 16 000 Häftlinge litten dort unter freiem Himmel. In die Rinde der Bäume geritzte Zeichen zeugen noch heute davon.
Martin Clemens Winter: »Gewalt und Verbrechen im ländlichen Raum«, Metropol, 531 S., 29,90 Euro.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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