- Politik
- 70 Jahre NATO
Und demnächst ist China dran
Momentaufnahme nach 70 Jahren: Trump und Krisen bestimmen den NATO-Alltag
Sehr geehrter Mr. Stoltenberg,
im Namen des russischen Volkes und seiner Regierung übersende ich Ihnen stellvertretend für alle Mitglieder der North Atlantic Treaty Organization (NATO) aufrichtige Glückwünsche zum 70. Jahr des Bestehens. Ich wünsche uns Erfolge bei den kommenden Gesprächen zur Minderung des Wettrüstens und bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels sowie der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der Welt. Gemeinsam und insbesondere im Verbund mit China kann es uns gelingen, der Menschheit eine erstrebenswerte Zukunft zu sichern.
Hochachtungsvoll
Wladimir Wladimirowitsch Putin,
Präsident der Russischen Föderation
Die NATO entstand im Zuge des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts, der mit der Blockade der Westsektoren Berlins 1948 einen ersten Höhepunkt erreicht hatte.
Gründungsmitglieder waren zehn westeuropäische Staaten sowie die USA und Kanada. Die Bundesrepublik Deutschland trat 1955 bei. Seit 2017 gehören der NATO 29 Staaten an. Laut Präambel zum NATO-Vertrag sind sie verpflichtet, in Übereinstimmung mit der UNO-Charta »ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen«. Diverse Kriegseinsätze – auch mit deutscher Beteiligung – künden vom Gegenteil.
Wie schön könnte die Welt sein! Doch so ein Schreiben wird es nicht geben. Wohl aber eine NATO-Geburtstagsfeier. Man hat bewusst auf ein angemessenes Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs verzichtet. Nur die Außenminister der Mitgliedsstaaten treffen sich in Washington. Allein das sagt viel über den Zustand der Gemeinschaft. Der ist schlecht und das hat aus Sicht vieler Mitglieder einen Grund. Er heißt: Donald Trump.
Der US-Präsident hat die beiden NATO-Gipfel, an denen er bislang teilgenommen hat, wahrlich nicht zu einem Symbol der Geschlossenheit werden lassen. Zugleich verbannte er in Washington alle Fürsprecher halbwegs vernunftbegabter Außen- und Sicherheitspolitik aus seinem Umfeld: Außenminister Tillerson, Sicherheitsberater McMaster, Stabschef Kelly, Pentagonchef Mattis ... Noch immer betrachtet Trump die NATO je nach Tageslaune als «obsolet».
Im Januar kam es in Washington zu einem einzigartigen Vorfall: Das US-Repräsentantenhaus forderte Trump mit überwältigender Mehrheit auf, nicht aus der NATO auszutreten. Haben die Abgeordneten vor der Ansetzung des Themas gekifft? Nein, sonst hätten sie jetzt auch nicht demonstrativ den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dessen Amtszeit gerade bis 2022 verlängert wurde, eingeladen, vor beiden Häusern des Parlaments zu sprechen - beides ist ein Votum gegen den US-Präsidenten, der beim NATO-Gipfel im Juli vergangenen Jahres einen Austritt der USA aus der Allianz nicht ausgeschlossen hat, sollten die Bündnispartner nicht umgehend zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben.
Stoltenberg, der auch von Trump empfangen wird, versucht zu vermitteln. Er verstehe, dass es für eine Regierung schwerer sei, Geld für die Verteidigung auszugeben anstelle für Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Aber man erhöhe die Verteidigungsausgaben ja nicht, um Trump zu gefallen, «sondern aus europäischem Interesse. Wir sehen ein stärkeres Russland, wir sehen Terroristen an unseren Grenzen, müssen Cyberattacken befürchten», sagte Stoltenberg jüngst dem «Spiegel».
Die Bundesregierung hat den Bündnispartnern bislang nur zugesagt, die deutschen Militärausgaben bis 2024 auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Doch die jüngsten Planungen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sehen die dafür notwendigen Mehrausgaben bislang nicht vor. Ressortchefin Ursula von der Leyen (CDU) bekommt zwar Jahr für Jahr mehr Geld, doch nicht so viel, wie sie fordert. Das muss in Washington wie ein Affront nicht nur gegenüber der NATO sondern speziell gegenüber den USA ankommen. Schon vor zwei Jahren hatte Trump der deutschen Kanzlerin unmissverständlich klar gemacht: «Viele Nationen schulden aus den vergangenen Jahren massive Summen. Das ist sehr unfair gegenüber den USA. Die Nationen müssen bezahlen, was sie schulden.»
Anfang des vergangenen Monats berichteten US-Medien, der Präsident habe bei Gesprächen mit Beratern nun auch noch verlangt, die Verbündeten müssten sämtliche Kosten für die Stationierung von US-Soldaten in ihren Ländern - mit einem Aufschlag von 50 Prozent - tragen. Immerhin handele es sich beim US-Truppenexport ja um eine Dienstleistung, so der Immobilienmogul.
Richard Grenell, US-Botschafter in Berlin, hat den Haushaltsplan der deutschen Regierung als «inakzeptabel» kritisiert - was man in Berlin mehrheitlich als unfeine Einmischung betrachtet hat. Aber, so meint auch der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, ein erfahrener Diplomat mit einer intensiven Dienstzeit in Washington: «Wir unterschätzen, welchen Frust unsere 1,5-Prozent-Ansage in Washington und Brüssel auslöst.»
Trump pocht gegenüber Verbündeten auf Verabredungen - oder erzwingt sie. Ihm selbst gelten Abkommen wenig. Insbesondere Deutschland hat der US-Präsident auf dem Kieker. Nach Belieben kündigt er Verträge, und auch bei militärischen Entscheidungen, die das Bündnis insgesamt tangieren, trifft er - siehe Kündigung des Iran-Abkommens, des INF-Vertrages, oder bei den Truppenstationierungen in Afghanistan oder Syrien - Entscheidungen ohne Konsultation mit den anderen.
So schwindet das bislang - bei allen Problemen - stets vorhandene Grundvertrauen. Die geduldige Bundeskanzlerin hat offenbar nach ihrem letzten Washington-Besuch alle Hoffnung aufgegeben, mit der gegenwärtigen US-Führung könne man eine Politik verfolgen, die auf gemeinsamen Werten und Idealen basiert. «Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei ... Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.» Wobei klar ist, die EU ist meilenweit davon entfernt, in der Außen- und Sicherheitspolitik geschlossen aufzutreten. Selbst zwischen den engsten Freunden - Deutschland und Frankreich - knirscht es, kaum dass neue Freundschaftsverträge unterschrieben sind. Zudem wäre eine gemeinsame EU-Verteidigungspolitik keine Alternative zur NATO. Sie wird allenfalls als Ergänzung gesehen.
Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen beherrscht Trump ein «Spiel» besonders gut: Teile und herrsche. Nach diesen Regeln gestaltet er unter anderem die Beziehungen zu Polen, das sich als treuer Vasall erweist. Warschau lobt - ohne das Wenn und Aber anderer Bündnisstaaten - den US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag. 2020 wird in dem Land eine Basis des umstrittenen US-Raketenschutzschildes einsatzbereit sein. Warschau wirbt zudem für eine dauerhafte Präsenz von starken US-Truppen in Polen. Präsident Andrzej Duda schlug bereits einen Namen für die zu bildende und von Polen mit Milliardensummen bezahlte US-Garnison vor: «Fort Trump».
Der NATO bleibt nichts anderes übrig, als sich an diese Entwicklung anzuhängen. Sie wird 231,4 Millionen Euro für den Aufbau eines Stützpunktes in Powidz bereitstellen, wo nach einer zwischen Warschau und Washington geschlossenen Vereinbarung, das Material für zusätzlich einzufliegende US-Truppen bereitgestellt werden soll. Vor ein paar Tagen erst wurde probeweise eine gepanzerte Brigade aus Texas nach Polen verlegt. Dabei erfüllte Deutschland, als einstiger Frontstaat im Kalten Krieg eine neue Funktion: die als Logistikdrehscheibe.
70 Jahre nach ihrer Gründung ist die NATO in einer höchst differenzierten Krise. Womit kittet man Risse im Bündnis? Indem man ein Feindbild pflegt. Dabei ist Russland sehr hilfreich, das seinerseits innenpolitische Schwierigkeiten durch martialische Aufrüstung überdeckt. Man liegt nicht falsch, wenn man auf beiden Seiten Politiker identifiziert, die geradezu Lust an einem neuen Kalten Krieg erkennen lassen.
Der findet derzeit vor allem an der russischen Westgrenze statt. Doch auch in der Schwarzmeerregion rüsten NATO und Russland auf. Während Moskau die Krim nach dem Vorbild der Exklave Kaliningrad zu einem weitreichenden Abwehrstützpunkt gestaltet, beschloss die NATO «Maßnahmen zur Verbesserung unserer Lageerfassung. Gemeint sind mehr Übungen in der Region, mehr »Besuche« von NATO-Schiffen und die Ausbildung von ukrainischen und georgischen Streitkräften.
Die 70-jährige NATO denkt nicht an Ruhestand. Um schneller als bislang agieren zu können, wird sich die NATO strukturell verändern. Derzeit können Entscheidungen nur einstimmig gefasst werden, künftig soll eine Dreiviertel-Mehrheit ausreichen. Den Streit mit Russland bewerten Experten nur als temporäre Episode im Kampf um die geopolitische Herrschaft. Im Fokus Washingtons und damit der NATO liegt China. Auch deshalb wird die NATO ihre ursprüngliche geografische Begrenzung auf Nordamerika und den größten Teil Europas noch zielstrebiger als bislang überwinden wollen. Pekings Rüstung, sein Engagement in Afrika, vor allem aber Investitionen in die europäische Infrastruktur sowie die Einbindung westlicher Staaten in die Seidenstraßen-Initiative werden in Washington wie Brüssel als Kampfansage verstanden.
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