»Alle, die anders denken, werden umgebracht«

Indigene in Kolumbien wehren sich mit Protesten gegen staatliche Gewalt

  • David Graaff, Medellin
  • Lesedauer: 3 Min.

In Kolumbien weiten sich die von Indigenen angestoßenen Proteste aus. Landesweit haben geschätzt mehr als 20 000 Mitglieder verschiedener Ethnien, Kleinbauern und Afrokolumbianer (kurz: Afros) wichtige Verkehrsstraßen blockiert. Das Epizentrum lag bislang in der Provinz Cauca. Dort organisiert der Indigenenverband (CRIC) seit rund drei Wochen die Besetzung der Panamericana, der Hauptverkehrsader zwischen der Millionenstadt Cali und der ecuadorianischen Grenze im Süden des Landes.

Von Beginn an, so der Nationale Indigenenverband (ONIC), habe die Polizei die Proteste kriminalisiert. Fast täglich kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Aufstandsbekämpfungspolizei ESMAD, die nicht nur gegen die Blockaden vorgeht, sondern auch Protestcamps gewaltsam zu räumen versucht. Am Dienstag starb der 20-jährige Deiner Yunda Camayo. Der Schuss wurde dem Anschein nach von einem Mitglied des ESMAD abgefeuert. Camayo ist nicht das erste Opfer. Neun Indigene und ein Polizist verloren im Rahmen des »Minga« genannten Streiks bislang ihr Leben.

Die Gründe der »Minga« sind vielfältig. Die Indigenen fordern mehr staatliche Ausgaben zur Verbesserung ihrer Lebensumstände, unter anderem mehr kollektiven Landbesitz. In dieser Frage sehen sie sich in Cauca der mächtigen Zuckerrohrindustrie gegenüber. »Im Kern ist der Konflikt einer um Territorien. Es geht um die Kompetenzen der Mitbestimmung der Indigenen, Afros und Bauern bei Fragen der Umwelt, der Bodennutzung, strategischen Ressourcen und öffentlicher Ordnung«, erklärt der Aktivist Juan Houghton, der die indigenen Organisationen seit Jahren begleitet.

Doch es geht um mehr als lokale Probleme: Die »Minga« fordern, so Houghton, die Regierungspolitik von Präsident Iván Duque heraus: Gegen Extraktivismus, die anhaltende Gewalt gegen Sozialaktivisten und nicht zuletzt die Gefährdung des Friedensprozesses. Duque hat nicht nur die Gespräche mit der ELN-Guerilla beendet, er will auch die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden schwächen, die als eine der wichtigsten Pfeiler des 2016 geschlossenen Friedensabkommens mit der FARC gilt.

Die breite Agenda ermöglicht ein Bündnis mit Studenten, Gewerkschaften und der linken Opposition im Kongress. Ein weiteres Anwachsen der Proteste ist daher wahrscheinlich.

Duque selbst hat den Protestierenden bislang die kalte Schulter gezeigt. Lediglich seine Innenministerin und den Hohen Beauftragten für den Frieden, beide ohne Entscheidungskompetenzen, hat er in die Region geschickt. Duque weigert sich allerdings, persönlich anzureisen, solange die Blockaden anhalten. Die Verhandlungen sind bereits mehrfach unterbrochen worden, weil es, so die Indigenenverbände, angesichts der Polizeigewalt keine Sicherheitsgarantien für die Proteste gebe.

Während Transport- und Landwirtschaftsverbände bereits Ausfälle in Millionenhöhe beklagen, verteidigen die Protestierenden die Blockade als einziges Mittel, sich Gehör zu verschaffen. »Mingas« der Indigenen hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben, besonders in Cauca. Damit haben sie der Politik Zugeständnisse abgerungen, die jedoch meist uneingelöst bleiben, was zu erneuten Protesten führt. Ein Teufelskreis, wofür die politische Elite die Verantwortung trägt, sagte die Sprecherin der ONIC, Aida Quilcué. Sie widersprach Darstellungen von Regierungsmitgliedern, Wirtschaftsvertretern und rechten Oppositionellen, die Proteste seien »Terrorismus«. Anschuldigungen, die Indigenen wollten nur mehr Geld, wies sie ebenfalls zurück und verwies auf die prekäre Sicherheitslage sozialer Aktivisten: »Alle, ob Indigene, Kleinbauern, Afros oder Städter, die anders denken, werden umgebracht«, so Quilcué.

Auf die Ermordung von Anführern sozialer Bewegungen machten diese Woche auch mehrere hundert Personen in Europa aufmerksam. Am Freitag trifft ihr Sternmarsch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein. Dort, so Diana Sepúlveda vom deutschen Zusammenschluss »Vereint für den Frieden« zu »nd«, wollen die Organisatoren die Eröffnung eines weiteren Verfahrens gegen Kolumbien zur systematischen Ermordung von Aktivisten beantragen und eine Stellungnahme der zuständigen Staatsanwältin Fatou Bensouda erreichen. Seit Anfang 2016 wurden nach Angaben der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte 462 Personen aufgrund ihrer politischen Aktivität ermordet.

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