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Auf Knallkurs
Vom Strap-On-Fick zu verbotenen Küssen: »Krawalle und Liebe« im Literaturforum im Brechthaus
Babsi Tollwut räumt auf im Brechthaus. Vor sitzendem Publikum rappt sie an gegen die Beschissenheit der Welt. »Krank, dass alle so sitzen«, sagt sie dann zwischen den Songs. »Normalerweise sind alle besoffen und können kaum stehen.« In schwarzer Jogginghose, auf der in weißen Buchstaben »Feminism« steht, pöbelt sie dem Publikum - neben Kapuzenpullis und Piercings sind auch Sakkos und etepetete Schlangenlederhandtäschen zugegen - ihren Track »Hochgelesen« entgegen, in dem es um elitäre Hochkultur- und Akademikerfatzkes geht. Kurz darauf steht die Polizei wegen Ruhestörung auf der Berliner Chausseestraße.
Die Veranstaltungsreihe »Krawalle und Liebe« von Kerstin und Sandra Grether mischt Menschen, die sich sonst auf so engem Raum kaum begegnen würden. Diejenigen, die für eine bestimmte Autorin oder einen Musiker da sind, kriegen mehr oder weniger zwangsläufig auch die Bücher und Lieder der anderen mit. Kann das funktionieren? Zur sechsten Ausgabe von »Krawalle und Liebe« im Brechthaus waren am vergangenen Donnerstag Max Czollek, Anna Gien und Marlene Stark, die Band Von Luft und eben die queerfeministische Rapperin Babsi Tollwut eingeladen. Dagegenhalten, andere Zustände fordern und diese Forderungen auch leben, die Stirn bieten und Trotz zeigen - diese Einstellung sollte die unterschiedlichen Gäste des sogenannten Grether-Salons verbinden. »Wir wollen nicht nur jammern in Zeiten der AfD, sondern aus dem Vollen schöpfen mit linken Utopien«, sagt Sandra Grether. gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Kerstin spielt sie in der Band Doctorella. Beide haben lange als Musikjournalistinnen für die »Spex« geschrieben und moderieren nun unter anderem »Krawalle und Liebe«. Die beiden Künstlerinnen wollen mit der Veranstaltungsreihe eine Verschmelzung wagen: Literaturlesung, politische Theorie, Aktivismus und Konzert - alles an einem Abend.
In diesem »Poptheorie-Salon« haben sich bereits Torsun Burkhardt von Egotronic, Drangsal, Yasser Almaamoun vom Zentrum für politische Schönheit, Lea Susemichel, Mark Terkessidis und Lena Stöhrfaktor getummelt. Für die beiden Schwestern ist die Veranstaltungsreihe ein »Bohéme-Ort«, ein Zusammenkommen von Leuten, die spannende Visionen haben und umsetzen. Konzipiert ist der Abend als eine Late-Night-Show: Es werden Gäste zu verschiedenen Themen geladen, sei es Marxismus oder Popfeminismus, und zusammengesetzt mit Künstler*innen mit unterschiedlichen Ansätzen.
Die Bühne im Brechthaus ist winzig, der Raum klein. Als Anna Gien und Marlene Stark aus ihrem Roman »M.« lesen, bleibt ein Satz hängen: »Ich bin im Sexkino und das hier ist mein Skript.« Die Protagonistin M. dieses »Erotikberichts 2019« (Sandra Grether) will die Männerkumpanei der Berliner Kunstszene und ihren Hochschlafhabitus entlarven, wahlweise auch mit einem Strap-On, einem umgeschnallten Dildo, zerficken. Gien und Stark, die den Roman zusammen geschrieben haben, lesen weiter vom »Metaschwanz« und Cybersex mit Leuten von eBay Kleinanzeigen. Dann Kehrtwende: Nach Gien und Stark kommt die Band Von Luft auf die Bühne und singt verträumt zur Akustikgitarre von Reeperbahn, Banküberfällen und verbotenen Küssen.
Die meisten Zuschauer*innen sind aber für die Lesung aus dem Buch »Desintegriert euch« von Max Czollek gekommen. Darin kritisiert er Märchen wie das von »deutscher Leitkultur« oder vom »christlich-jüdisches Abendland«. »Wenn wir eure Juden sein sollen, dann seid ihr unsere Kartoffeln«, stellt Czollek klar und ruft dazu auf, bei solchem Integrationstheater, bei der Reduzierung von Künstler*innen auf ihr Jüdischsein als einzigem herausstechenden Merkmal, nicht mehr mitzumachen. Dann wird's intellektuell: Czollek fordert postmigrantische Allianzen gegen die dominierende Definition einer deutschen Geschichte und Zukunft, die noch immer viel zu Viele ausschließe. Im selben Atemzug reflektiert Czollek die Zwickmühle, die entsteht, wenn Bezeichnungen wie »Frau« oder »Jude«, die gesellschaftliche Gruppen erst sichtbar machen und auch zur Selbstermächtigung angeeignet werden, abermals dazu benutzt werden, in Kategorien einzuordnen und einzuschränken. Ein anderes Bild, wie zum Beispiel das von gewaltbereiten radikale Juden und Jüdinnen, die sich gegen die Nazis wehrten, finde da kaum Platz im deutschen Gedenken an die Shoah. Und das verhindere für Czollek die Aufarbeitung des Faschismus in Deutschland. Er ist auf der Suche nach genau solchen anderen Geschichten.
Zum Schluss gibt Babsi Tollwut mit dem Song »Fischfänger« dem Patriarchat noch mal eins auf die Rübe. Babsi hat schon früh HipHop gehört, »auf’m Dorf« erzählt sie, auch mal Aggro Berlin, auch mal den »Arschficksong« von Sido. Aber dann habe sie sich politisiert und einer Antifa-Gruppe angeschlossen. Allmählich professionalisiere sie sich, »werd’ jetzt bisschen mehr Arsch geben«, sagt sie. Sie wolle sich künftig darauf konzentrieren, Beats zu machen und über aktuelle Themen zu rappen. Geschrieben hat sie schon immer und als sie nach Berlin zog, hat sie Rapperinnen auf der Bühne gesehen und gedacht: Das kann ich auch. Wenn sie Songs schreibt, sind da meist erst ein diffuses Unwohlsein und kleine Reime, die sie sich ab und an aufschreibt. Dann kulminiere alles irgendwann in einem unaufhaltbaren Erbrechen, bis der Song steht. »Haste echt gut gekotzt«, kommentiert Kerstin Grether.
Dieser Abend konfrontiert verschiene Szenen miteinander. Die unterschiedliche Sprache der Gäste, die verschiedenen Haltungen des Publikums knallen aufeinander. »Krawalle und Liebe« ist ein Experiment. Manchmal harmoniert es nicht, manchmal geraten die Töne schief. Aber manchmal müssen Experimente durchgeführt werden, um zu wissen, was dabei herauskommen könnte.
»Krawalle und Liebe 7« am 4. Juni, Literaturforum im Brechthaus Berlin.
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