Urlaub für alle

Die 58. Biennale Venedig ist problembewusster und avancierter als die vor zwei Jahren

  • Ingo Arend
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein verrosteter Schiffsleib in Blau und Braun liegt am Rande des azurblauen Wasserbeckens von Venedigs Arsenale wie ein toter Wal. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini dürfte schäumen ob des Werks, das zum Eyecatcher der Kunstbiennale geworden ist, die am Wochenende in der Lagunenstadt begann.

Mehr als 800 Flüchtlinge starben, als das Gefährt im April 2015 zwischen der libyschen Küste und der Insel Lampedusa sank. Italiens damaliger Regierungschef Matteo Renzi wollte das Todesschiff auf Europatournee schicken, um den Rest der EU an den »Skandal der Migration« zu erinnern. Nach Renzis Abgang schickt es nun eine Initiative um den Schweizer Künstler Christoph Büchel als »trojanisches Pferd« für das Menschenrecht auf freie Bewegung quer über den alten Kontinent.

So richtig in das Kunstverständnis von Ralph Rugoff passt Büchels Werk »Barca Nostra« nicht. »Kunst ist keine Nachricht, die wir schnell entziffern und verstehen können«, ließ der US-amerikanische Semiotiker, Jahrgang 1965, seit 2006 Direktor der Londoner Hayward Gallery, schon im Vorfeld der 58. Ausgabe der »Mutter aller Biennalen« verlauten, für die er als Kurator auserkoren worden war.

Sehr viel mehr als eine ziemlich durchsichtige politische Geste ist Büchels Arbeit nicht. Moralisch fragwürdig zudem, das stählerne Massengrab realer Flüchtlinge dem artifiziellen Eventtourismus als Kulisse einzuverleiben: Dem Schiff direkt gegenüber schlürfte die polyglotte Kunstmeute zur Eröffnung der Biennale ihren Espresso und leerte die Lunchpakete.

»Die Kunst sollte sich hüten, Phänomene wie Neoliberalismus oder Rassismus aus einer Position des Aktivismus heraus anzugehen«, hatte Rugoff im Vorfeld zwar dekretiert. Aber ganz ohne ein kritisches, möglichst noch medientaugliches Symbol kommt heute keine Biennale mehr aus, die sich nicht vorwerfen lassen will, die großen Krisen der Zeit übersehen zu haben. Und schließlich hatte Rugoff schon mit seinem Motto die bedrohliche Massierung der globalen Überlebensprobleme aufgerufen. »May You Live In Interesting Times«, der scheinbar nonchalante chinesische Fluch meint eigentlich die »unruhigen« Zeiten.

Büchels Arbeit ist nicht die einzige, die ihre Message gleichsam mit dem Holzhammer unter die Leute bringt. Für den massiven grauen Staudamm, mit dem Natascha Süder Happelmann den deutschen Pavillon in Venedigs Giardini zu einem Symbol der Festung Europa verwandelt hat, kann Rugoff zwar nichts. Für die Auswahl der deutsch-iranischen Video- und Installationskünstlerin war Franciska Zólyom verantwortlich, die Direktorin der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst. Der Mangel an Ambiguität, Subtexten und Widersprüchen, auf die Rugoff mit »seiner« Biennale hinauswill, eint sie freilich mit Büchels Arbeit.

Offizielle Eröffnung vergangenen Freitag durch Bundesaußenminister Heiko Maas nutzte die Künstlerin, hinter deren Tarnnamen sich Natascha Sadr Haghighian verbirgt, zu einer gnadenlosen Abrechnung mit der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik. Noch ein starkes Statement in Salvinis Italien. So kann man Steuergelder natürlich auch mal einsetzen. Die Kehrseite des bitterernsten Tribunals: Kein doppelter Boden, nirgends.

Zum Glück bietet Rugoffs Biennale aber auch zeitgemäße politische Ästhetik. Eigens für die Schau hat Christian Marclay eine Collage aus 48 Kriegsfilmen produziert, die so übereinandermontiert sind, dass von jedem Streifen nur noch der äußere Bildrand zu sehen ist.

Dem US-Künstler und Komponisten geht es nicht um konkrete Kriege. Konsequent verweigert er sich der klassischen Repräsentation. Der ins Unendliche laufende Tiefensog der übereinandermontierten Streifen und die parallele kakofonische Soundspur hinterlassen beim Betrachter das Gefühl, dass der martialische Wahnsinn einfach nie aufhört.

Dazu passt dann die provozierende Installation »Can’t help myself« von Sun Yuan und Peng Yu. In einer riesigen Plexiglas-Box im großen Pavillon in den Giardini wischt ein Roboter mit einem rotierenden Gummischaber unaufhörlich eine riesige Blutlache auf.

Rugoffs Biennale ist problembewusster und avancierter als die Ausgabe seiner französischen Kollegin Christine Macel vor zwei Jahren, die mit »Viva Arte Viva« auf naiven Euphemismus machte. Kein Wunder: Er hat doch einen mit 79 Künstler*innen vergleichsweise überschaubaren und radikal zeitgenössischen Parcours kreiert. Ein Drittel von ihnen ist in den 1980er Jahren geboren. Rugoff hat auch bewusst auf eine der üblichen Themen-Biennalen verzichtet, die, bedeutungsvoll bis erratisch übertitelt, als philosophisches Essay daherkommen. Trotzdem ertappt man sich bei der Suche nach einer These jenseits des betulichen Gemeinplatzes, dass die Zeiten gefährlich und kompliziert sind. So gleicht seine Schau einem etwas hilflosen Potpourri.

Andererseits bekommt es der Kunst durchaus, einmal nicht in das Korsett irgendeiner Beweisführung gezwängt zu werden. Die roten Schülersitze der deutsch-britischen Bildhauerin Jesse Darling auf wackligen Stahlfüßen versinnbildlichen die Idee einer fragilen Solidarität und des Antimonumentalen auch ohne viel Kuratoren-Metaphysik.

Das schönste Beispiel poetischer Absichtslosigkeit lieferte freilich der Pavillon Litauens, der zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Die melancholische Performanceoper »Sun and Sea (Marina)«, bei der einige Menschen 24 Stunden in einer alten Fabrikhalle in Badekleidung auf Sand liegen und singen, ruft auf, was in Zeiten von Austerität und globaler Armut zum Privileg wurde: Urlaub für alle.

Es ist sowieso ein Kurzschluss der Mainstream-Polit-Ästhetik, die derzeit die Biennalen dominiert, dieses Format zum Archiv und Bilderbuch aller globalen Krisen und Ungerechtigkeiten umzudeuten. Wie es beispielsweise Rula Halawani mit ihrer (schon häufig gezeigten) Serie »The Wall« macht, in der sie die israelische Mauer durch Palästina dokumentiert.

Wie man auf das Grundsätzliche reflektieren kann, ohne vordergründig zu werden oder in belangloses L’art pour l’art abzugleiten, zeigt Ryōji Ikeda. Der französisch-japanische Künstler hat einen sterilen nüchternen Korridor aus fluoreszierenden weißen Leuchtröhren gebaut, in dem das Licht so gleißend strahlt, dass der Besucher nichts mehr zu sehen glaubt. Ständig versucht er die Augen weit aufzureißen.

Wer die Biennale durch diesen Tunnel der gezielten Verblendung verlässt, versteht, warum es schon ein politischer Akt sein kann, die eigene Wahrnehmung scharf zu stellen. Die »unruhigen« Zeiten, die uns zu überwältigen drohen, muss man erst mal erkennen können.

»May You Live In Interesting Times«, 58. Biennale von Venedig, noch bis zum 24.11.2019; Katalog: 85 €, Kurzführer: 18 €, Eintritt: 25 €.

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