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Jenseits des Ego
Kein Genuschel, kein Autotune: Auf »Wildstyles« macht Alice Dee Rap ohne Rollenprosa
Alice Dee ist geladen. Nicht mit Aggression, mit Energie. Einmal steht sie am Berliner Ostkreuz - schwarze Klamotten, Pastellfarbe im Haar, Neongrün an den Füßen -, von dort zieht sie los, den Oberkörper nach vorn gebeugt, um schneller voranzukommen. Das passt: Der Großteil der Stücke auf »Wildstyles« verhält sich genau so. Die EP ist eine knappe Viertelstunde lang, die es in sich hat. Während Rapstars Modern-Talking-Hits neu auflegen und über weichgespülte Melodien austauschbare Inhalte nuscheln, zischt bei Alice Dee erst mal die Sprühdose. Graffiti-Writing gilt neben Rap, DJing und Breakdance als eine der Säulen des Hip-Hop, dessen Ursprung schon mal vergessen wird angesichts der jüngsten Stilblüten. Schon der Titel der EP bezieht sich auf Graffitikultur, genauer: auf besonders ornamentale Schriftzüge. Geht es hier etwa zurück zu den Wurzeln?
Zumindest, was Inhalte jenseits vom Ego angeht. Als Künstlerin will Alice Dee dafür einstehen, woran sie glaubt: Verletzlichkeit und Gemeinsinn. Ihre Vision? »Dieser Moment, in dem du deine Message mit ganz vielen Menschen teilst und« - sie atmet hörbar aus - »es fließt.« Die Botschaft von »Wildstyles« kommt mit so angriffslustigen Horngehupe daher, dass es Hip-Hop-Nostalgiker aus den Latschen kippt. »Was würdest du tun, wärst du wirklich frei?«, rappt sie im Opener. Die Frage - sie ist in Wirklichkeit eine Message.
Alice Dee, geboren in Frankfurt am Main und vielfach umgezogen, verließ ihr Elternhaus mit 17 Jahren. Anschluss fand sie bei Jugendlichen in Nürnberg, die gebreakt und gesprüht haben. Schreiben, das war für die Rapperin Ende 20 immer auch Ausdruck ihrer Wut auf die Welt: »Ich habe ein Ventil gebraucht«, erinnert sie sich und illustriert dies mit einer Anekdote: Brasilien, Jugendreise, sie sitzt vor dem Hostel und beobachtet eine Kakerlake. Kommt einer daher und zertritt sie. Alice Dee rastet aus. Sie erkennt darin den Irrglauben, andere einschränken zu dürfen. »Wir haben alle die Möglichkeit, aufeinander zu achten und die eigene Grenze zu checken«, glaubt sie. Wenn sie Leute vor den Kopf stößt, dann mit »Geschichten, die etwas anderes spiegeln als hart und sexy zu sein«.
Im Fokus von »Wildstyles« steht deshalb die Zusammenarbeit - Kolleginnen steuern Zeilen auf Portugiesisch und Französisch bei, ge-beatboxt wird auch, dank dominanter Basselemente bleibt die EP aber kohärent. Man hört ihr an, dass Alice Dee ihr musikalisches Unterfangen inzwischen ernst nimmt, kein Lied wirkt unfertig. Rappte sie früher mehr über persönliche Abgründe, geht es diesmal auch um Privilegien, Geschichtsvergessenheit und Rechtsruck. Zwar spittet sie teils zu schnell, um jedes Wort zu verstehen. Weil ihr das Spiel mit der Stimme aber weitaus besser gelingt als in den Vorjahren, ist das schnell verziehen. Der Flow beginnt tief in der Kehle und die melodischen Variationen der Lines sitzen. Gepaart mit solidem Timing ergibt das ordentlich Feuer.
Alice Dee: »Wildstyles« (Synchrom).
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