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Ein neuer Friedensprozess?
Yücel Özdemir fragt sich, was es bedeutet, dass die Totalisolation Abdullah Öcalans aufgehoben wurde
Beginnt ein neuer Friedensprozess mit den Kurden? Seit einigen Tagen ist die Türkei mit dieser Frage beschäftigt. Grund dafür ist eine Nachricht des PKK-Anführers Abdullah Öcalan, der in den vergangenen acht Jahren nicht mehr als zweimal von seinen Anwälten, seiner Familie oder jemand anderem besucht wurde.
Diese Nachricht wurde durch seine Anwälte auf einer Pressekonferenz überbracht, die diese nach ihren Besuchen auf der Gefängnisinsel İmralı am 2. und 22. Mai durchführten. Dem vorangegangen war wiederum der Hungerstreik von Leyla Güven, Abgeordnete der linken Partei HDP (Demokratische Partei der Völker), dem sich Tausende Inhaftierte in der Türkei und kurdische Politiker in unterschiedlichen Ländern angeschlossen hatten.
Der Hungerstreik, der mit der Forderung begann, Öcalans Isolation zu beenden, hat mit der Öffnung der Türen von İmralı sein Ziel erreicht. Bevor noch mehr Leute sterben, wurde er beendet. Dass während der Aktion acht Menschen ihr Leben aus Protest beendeten und sich Tausende mehr als sechs Monate im Hungerstreik befanden, damit ein Treffen mit Öcalan ermöglicht wird, er seine Rechte als Inhaftierter wahrnehmen kann, sagt viel über die rechtsstaatliche Situation im Land aus.
Nachdem der Staat den Friedensprozess mit den Kurden vor vier Jahren »auf Eis gelegt« hatte, wie Erdoğan es ausdrückte, trägt nun die Möglichkeit der Anwälte, sich mit Öcalan zu treffen und seine Nachrichten zu übermitteln, dazu bei, das mit Nationalismus vergiftete Klima zu entspannen. Sogar Erdoğans »Kumpel« Devlet Bahceli, Vorsitzender der extrem rechten MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), der auf seinen Kundgebungen die - in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelte - Todesstrafe für Öcalan verteidigte, befürwortete das Treffen mit den Anwälten.
Aber wie kam es dazu, dass Erdoğan plötzlich nachgibt und den Anwälten einen Besuch auf İmralı gestattet, nachdem die Wahlniederlage seiner AK-Partei am 7. Juni 2015 doch dazu geführt hatte, dass der Krieg gegen die Kurden neu entfacht wurde? Über die Antwort auf diese Frage wird derzeit viel spekuliert. An erster Stelle steht die Bürgermeisterwahl in Istanbul, die am 23. Juni wiederholt werden wird. Manche sehen einen Zusammenhang zwischen der Entscheidung des Hohen Wahlausschusses, der die Wahl annullieren ließ und der Erlaubnis, dass Öcalan besucht werden darf. Obwohl das Treffen mit den Anwälten schon am 2. Mai stattfand, wurde dies erst am 6. Mai - dem Tag der Wahlannullierung durch den Wahlausschuss - öffentlich gemacht.
Es wird behauptet, Erdoğan versuche mit diesem Schritt Stimmen der konservativen Kurden zu mobilisieren, um so das knappe Ergebnis der Bürgermeisterwahlen zu drehen. Nun, natürlich liebäugelt Erdoğan mit den Stimmen der Kurden, um die Wahl doch noch zu gewinnen. Allerdings ist unter vielen Kurden weder Geduld noch ein freundlicher Blick für Erdoğan geblieben. Die Chancen sind gering, dass die Taktik zugunsten der AKP ausgehen wird.
In beiden bisher veröffentlichten Erklärungen Öcalans sind die Äußerungen zur Situation der syrischen Kurden bemerkenswert. Nach dem ersten Treffen mit seinen Anwälten Anfang Mai rief Öcalan die Kurden Syriens dazu auf, die Befindlichkeiten der Türkei zu beachten. Er sprach von einer lokalen Demokratie in einem vereinten Syrien, das die »Bedenken der Türkei« berücksichtigen solle. In seiner zweiten Botschaft betonte er, dass er eine positive Rolle für die Lösung der Probleme in Syrien - einschließlich der kurdischen Frage - im Rahmen eines vereinten Syriens spielen würde, sofern ihm die Gelegenheit geboten wird.
Die Frage der Zukunft der syrischen Kurden spielte schon eine Rolle, als der Friedensprozess vor mehr als vier Jahren auf Eis gelegt wurde. Die Lage in der Region ändert sich seither rasant - und auch die Lage Erdoğans, der sowohl innen- als auch außenpolitisch unter Druck steht und Wege sucht, seine Macht zu sichern. Niemand erwartet allerdings, dass der Friedensprozess tatsächlich wieder aufgenommen wird. Und wenn, würden sich alle Beteiligten misstrauisch einander nähern. Tatsache ist: Die Entscheidung der kurdisch-türkischen Linkspartei HDP, bei den Regionalwahlen am 31. März keine eigenen Kandidaten in den großen, westlichen Städten aufzustellen, war der Anfang von Erdoğans Niedergang. Schauen wir mal, wie lange er es noch schafft, sich zu halten.
Aus dem Türkischen von Svenja Huck
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