Der Mann, der Lenin den Schlaf raubte
Der Ecuadorianer Richard Carapaz krönt sich zum König des Giro d’Italia. Trainiert wird er von der einzigen Frau im Männerradsport
Ecuador steht Kopf dieser Tage. »Ich glaube, das ganze Land ist paralysiert wegen des Giro. Die Leute müssen ja ganz früh aufstehen wegen des Zeitunterschieds. Aber die Leidenschaft ist groß«, sagte Richard Carapaz fröhlich, als man ihn auf die Situation in seiner Heimat ansprach. Sogar der Staatspräsident, mit Namen Lenin Moreno - seine Eltern gaben ihm den Vornamen tatsächlich aus Verehrung für den russischen Revolutionär - ließ sich von der Passion anstecken. Er twitterte an Carapaz bereits einen Gruß, als der auf der 14. Etappe das rosa Führungstrikot erobert hatte. Es war eine historische Tat, denn kein Ecuadorianer hatte es zuvor tragen dürfen.
Carapaz ließ es sich bis zur Schlussetappe am Sonntag auch nicht wieder ausziehen. Geholfen haben mochte auch, dass Lenin Moreno für das Zeitfahren am Sonntag das ganze Land zur Unterstützung der »Lokomotive aus Carchi« aufgerufen hatte. Den eher an die industrielle Revolution erinnernden Namen verdiente sich Carapaz durch seine Beinkraft. Aus der Provinz Carchi an der Grenze zu Kolumbien stammt er. Beinkraft und Herkunft führten dann zum Spitznamen.
Dass er beim Giro derart zuschlug, zwei Etappen gewann, im Team Movistar seinen spanischen Kapitän Mikel Landa ausstach und weder vom italienischen Altmeister Vincenzo Nibali noch vom Zeitfahrspezialisten Primoz Roglic aus Slowenien in Verlegenheit zu bringen war, verdankt Carapaz ein wenig auch dem Aufwachsen und Trainieren in der Heimat. Auf knapp 3000 Meter Höhe liegt sein Geburtsort El Carmelo. Die Berge ringsum konnte er sich zum Trainieren aussuchen. »Manchmal waren wir schon drüben in Kolumbien, ohne es überhaupt zu merken«, berichtete er einst einheimischen Medien.
Kolumbien war auch wichtig für seine Ausbildung als Radsportler. Entdeckt wurde er zwar durch eine lokale Größe, den Ex-Profi Juan Carlos Rosero. Der fuhr in den 1980er Jahren eine Saison in einem unterklassigen italienischen Rennstall gemeinsam mit Cesare Cipollini, dem älteren, und angeblich talentierteren Bruder des späteren Supersprinters Mario Cipollini. Mit Rosero, bis zu dessen frühen Tod 2013, trainierte Carapaz auch. Rennen fuhr er aber vor allem in Kolumbien. Bei der Tour de Porvenir 2011, dem wichtigsten U19-Rennen des Landes, ging er schon einmal gemeinsam mit dem Lokalhelden Miguel Angel Lopez in eine Fluchtgruppe. Lopez und Carapaz waren auch Protagonisten dieses Giro. Lopez, ins weiße Leibchen des besten Jungprofis gewandet, startete mit mächtigem Antritt oft die Attacken, die Carapaz dann als Absprungrampe für eigene Beschleunigungen nutzte. Der Ecuadorianer hatte seinen alten Kumpel bestens studiert und dessen Aktionen perfekt in den eigenen Plan integriert.
Profitieren konnte er in der zweiten Woche der Rundfahrt allerdings auch vom Taktikspiel zwischen Roglic und Nibali. Der Slowene, mit extrem schwacher Mannschaft zum Giro gekommen, verweigerte sich so sehr der Führungsarbeit, dass sich der Italiener zu einem demonstrativen Stehversuch hinreißen ließ. Rennentscheidend war dies über drei Wochen gesehen wohl nicht. »Natürlich sind die taktischen Spielchen im Nachhinein aber ärgerlich. Movistar und Carapaz waren dennoch so stark in der letzten Woche, dass sie den Giro ohnehin gewonnen hätten«, meinte Nibalis Berghelfer Domenico Pozzovivo gegenüber »nd«.
Die Stärke von Carapaz ist auch das Verdienst einer Frau. Iosune Murillo ist Trainerin des Ecuadorianers, die einzige Frau in dieser Position im Profiradsport der Männer. Sie betreut ihn seit 2016. »Wir merkten schnell, dass er Potenzial hat. Wie gut er über drei Wochen ist, fanden wir aber erst bei der Spanienrundfahrt 2017 heraus«, erzählte sie. Damals hielt der Debütant aus den Anden am vorletzten Tag der Vuelta auf dem mörderischen Anstieg des Angliru so gut mit, dass er Tageselfter wurde. Die Etappe war durch einen heroischen Ausreißversuch Alberto Contadors und die verzweifelt anmutende Nachführarbeit Chris Froomes gekennzeichnet.
Und Carapaz war vorn mit dabei. »Ein Jahr danach wurde er schon Vierter beim Giro. Und für dieses Jahr wollten wir ihn noch besser machen«, sagte Murillo trocken. Der Plan ging auf. Carapaz gewann den Giro und bescherte ganz Ecuador schlaflose Nächte. Und Iosune Murillo aus Pamplona wurde plötzlich zur Grand Tour-Sieger-Macherin. Sie sieht sich selbst als Modell für andere Frauen. »Es gibt ja schon ein paar Frauen im Männerradsport, als Ärztinnen und Masseurinnen. Es sollten mehr werden. Radsport ist Teamarbeit, für Frauen wie Männer«, sagte sie. So initiiert der Mann, der Lenins Volk ganz berauschte, vielleicht auch noch eine Genderrevolution.
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