»Viele können sich nicht vorstellen, wie es ist, ständig Angst zu haben«

Ein Runder Tisch von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen warnt die Politik vor den Folgen flüchtlingsfeindlicher Politik für die Bundesländer

  • Lesedauer: 4 Min.

Die Initiative »Jugendliche ohne Grenzen« hat bereits viele Innenministerkonferenzen begleitet. Was ist das Besondere beim Treffen in Kiel?

Naes: Auf der Konferenz wird nicht mehr über Integration gesprochen, sondern eigentlich nur noch über Abschiebungen: nach Afghanistan, nach Gambia, nach Italien oder Syrien. Immer mehr Jugendliche sind von Abschiebung bedroht. Sie leben jeden Tag mit der Angst, nicht bleiben zu dürfen. Außerdem dürfen sie oft nicht arbeiten oder eine Ausbildung machen. Die meisten können nicht abgeschoben werden, trotzdem dürfen sie sich kein normales Leben aufbauen. Deswegen wollen wir den Innenministern sagen: Wir sind die Zukunft, wir bleiben hier.

Wafaa Naes und Günter Burkhardt

Wafaa Naes (ohne Bild) von der Initiative Jugendliche ohne Grenzen, Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, und Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein (v.l.n.r.), haben am Dienstag an einem Runden Tisch im Vorfeld der Innenministerkonferenz zu flüchtlingspolitischen Forderungen zivilgesellschaftlicher Gruppen in Kiel teilgenommen. Mit ihnen sprach Dieter Hanisch.

Fotos: privat / Pro Asyl / Dieter Hanisch

Was ist die Hauptforderung der Jugendlichen an die IMK?

Naes: Wir wollen ein Bleiberecht für uns, unsere Freunde und Familien und dass alle Jugendlichen die gleichen Chancen auf Bildung bekommen. Wir möchten hier ohne Angst leben und zur Schule gehen können. Viele Deutsche können sich nicht vorstellen, wie es ist, ständig Angst zu haben, in ein gefährliches Land abgeschoben zu werden.

Wird Bundesinnenminister Seehofer sich mit den bereits vorhandenen Möglichkeiten für Abschiebungen zufriedengeben?

Burkhardt: Nein. Im Gegenteil, aus seinem Hause ist schon die Forderung nach einer Ausweitung der Abschiebungen nach Afghanistan zu hören, gegen die sich verschiedene Bundesländer, das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und viele Organisationen wenden. Ein genereller Abschiebestopp in das unter Gewalt und Terror leidende Land ist das Gebot der Stunde. Ich appelliere an die Länder, die Abschiebungen zu stoppen.

Auf der IMK soll auch ein Beschluss über eine Verlängerung eines allgemeinen Abschiebestopps nach Syrien gefasst werden ...

Burkhardt: Offen ist aber die Dauer: nur bis zum 31. Dezember oder für zwölf Monate. Dabei sollte doch klar sein, dass eine sichere Rückkehr in das Land auf lange Sicht wegen willkürlicher Verfolgung, Terror und Folter unmöglich ist. Allen Gegnern des Assad-Regimes, und das sind aus dessen Sicht die Geflüchteten, besonders aber Deserteuren und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, drohen ernste Gefahren. Durch immer nur kurzfristige Abschiebestopps werden Flüchtlinge aus Syrien in Angst gehalten. Pro Asyl fordert ein Ende dieser Verunsicherungsstrategie durch Tausende Widerrufsverfahren. Die Zustände in Irak und in Sudan verlangen ebenso nach einem bundesweiten Abschiebestopp.

Erstmals hat es einen Austausch zwischen dem IMK-Vorsitzenden Hans-Joachim Grote (CDU) und rund 15 Gruppen, Initiativen und Verbänden der Flüchtlingsarbeit gegeben. Mehr als ein Feigenblatt?

Link: Zumindest war es ein wichtiges Gespräch, um mehr Verständnis für die Komplexität von Auswirkungen politischer Entscheidungen auf zivilgesellschaftliches Engagement zu wecken. Wenn der Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge beispielsweise fordert, dass man den Flüchtlingsräten die Gemeinnützigkeit oder staatliche Fördergelder aberkennen sollte, dann ist das ein Frontalangriff auf unabhängige Helfer, den es zurückzuweisen gilt.

Zu beobachten ist Kriminalisierung statt Wertschätzung gerade ehrenamtlicher Flüchtlings- und Integrationsarbeit. Wie kann einer Entsolidarisierung begegnet werden?

Link: Zum Beispiel durch Aktionen wie die der Gruppe »Jugendliche ohne Grenzen«, die am Donnerstagabend erneut mit der Verleihung des Negativpreises »Abschiebeminister des Jahres« auf die Folgen menschenfeindlicher Politik hinweist. Wenn Menschenrechtsarbeit gegen Abschiebungen in den Tod oder in Überlebensnöte in ein schlechtes Licht gerückt wird, dann sind wir nicht so weit weg von einer faschistischen italienischen Regierung, die Menschen ertrinken lässt und Leute, die helfen wollen, mit Strafverfahren überzieht.

Stößt die im Bundestag in der Vorwoche verabschiedete verschärfte Asylgesetzgebung bei der IMK auf allgemeine Zustimmung?

Burkhardt: Ich hoffe nicht. Die Länder müssten doch sehen, dass eine 18-monatige Isolierung in »Ankerzentren« Menschen kaputt macht und Integration verhindert, auch die auf dem Arbeitsmarkt. All das verursacht nicht nur Leid. Es entstehen vermeidbare Kosten für Sozialleistungen. Der Integration wird mit Isolierung und Arbeitsverboten in Folge der »Duldung light« ein Bärendienst erwiesen.

Droht das Thema Flucht und Migration durch die aktuellen Debatten um den Klimaschutz in den Hintergrund zu geraten?

Link: Beides hängt miteinander zusammen. Schon in den nächsten zwei Dekaden wird die Zahl der Klimaflüchtlinge drastisch steigen. Die einzige Antwort der EU darauf ist mehr Abschottung. Es ist an uns, die Zusammenhänge deutlich zu machen.

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