»Duell Istanbul«

Yücel Özdemir kann sich vorstellen, dass eine bevorstehende Fernsehdebatte Istanbuls Zukunft besiegeln wird

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Spannung steigt: Bis zur Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul am 23. Juni verbleiben noch neun Tage. Doch es geht schon lange nicht mehr um die bloße Ernennung eines neuen Stadtoberhaupts. Der Wahlkampf hat sich zu einem offenen Duell zwischen Regierung und Opposition entwickelt.

Das anstehende Fernsehduell zwischen den beiden Bürgermeisterkandidaten dürfte diesen Zweikampf auf nationaler Ebene noch einmal verstärken. Ein Fernsehduell - in europäischen Ländern geläufiger Teil eines Wahlkampfes - galt in der Türkei bisher als Tabu. Doch seit der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Amt des Ministerpräsidenten erlangte, sehnt sich die Türkei nach solch einem Wahlkampfformat. Bisher lehnte Erdoğan jede Aufforderung dazu mit den Worten »Die sind mir nicht gewachsen« ab.

Diesmal war es anders: Dem mehrmaligen Aufruf des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu zu einem solchen Duell stimmte der Kandidat des Regierungsblocks, Binali Yıldırım, schlussendlich zu. Man kann davon ausgehen, dass am Abend des 16. Juni ein neuer Rekord bei den Einschaltquoten aufgestellt und die Wahlergebnisse maßgeblich beeinflusst werden.

Erdoğan hingegen war nie dazu bereit, mit seinen Konkurrenten von Angesicht zu Angesicht zu diskutieren. Er scheint zwar wie ein Meister der Polemiken und Diskussionen, doch seine größte Schwäche ist das Risiko, das Selbstvertrauen und die Kontrolle zu verlieren. Aufgrund dieser Sorge ist er seit Jahren nicht mehr in einem Zweikampf angetreten.

Sein Konkurrent Kemal Kılıçdaroğlu hingegen, Vorsitzender der Republikanische Volkspartei (CHP), ist ein ausgesprochener Duellant. Sein politischer Aufstieg ereignete sich im Wesentlichen im Zweikampf mit zwei Anführern von Erdoğans Partei für Aufschwung und Gerechtigkeit (AKP).

Diese Erfahrung wird er höchstwahrscheinlich an İmamoğlu weitergeben, wodurch dieser im Duell mit Yıldırım punkten wird. Hinzu kommt, dass İmamoğlu durch seine 18 Tage im Bürgermeisteramt viele potenziell brisante Informationen in der Hand hält.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieses Duell zu einem Stimmenzuwachs für İmamoğlu führen wird. Nachdem er die Wahl am 31. März mit einem Vorsprung von 13 000 Stimmen gewonnen hatte, liegt er in den aktuellen Umfragen mit zwei Prozent vor seinem Gegner.

Wenn nicht auf den letzten Metern noch etwas anbrennt, ist İmamoğlus erneuter Wahlsieg gewiss. Aus diesem Grund setzen Erdoğan, Yıldırım und die AKP alles daran, um die verlorenen Wahlen doch noch zu gewinnen. In erster Linie soll İmamoğlus Ansehen beschädigt werden. In den sozialen Medien werden Videos verbreitet, die auf Fakenews basieren.

Erdoğan und Yıldırım, die sich darüber bewusst sind, dass der Schlüssel für die Wahl am 23. Juni bei den Millionen in Istanbul lebenden Kurden liegt, verfolgen die Strategie der Besänftigung im Kurdenkonflikt. Deshalb fuhr Yıldırım am dritten Tag des Zuckerfestes nach Diyarbakır und sprach dort über Einigkeit. Er hat erkannt, dass der Weg zu den Kurden in Istanbul über die kurdische »Hauptstadt« Diyarbakır führt. Dass er während seines Besuchs den Begriff »Abgeordneter Kurdistans« verwendete, löste eine heftige Debatte aus. Vor allem die Nationalisten reagierten auf die scheinbare Anerkennung »Kurdistans«.

Berechtigerweise kritisierten die kurdischen Politiker Yıldırıms Besuch in Diyarbakır und Urfa, durch die er die Herzen der Istanbuler Kurden gewinnen will. Mehrmals wurde betont, dass dieses Manöver zum Stimmenfang die Haltung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) nicht verändern werde.

Die Entwicklungen zeigen, dass die Panik in der AKP nach wie vor anhält. Die Wahrscheinlichkeit einer Wahlniederlage am 23. Juni ist weitaus höher, als die des Sieges. Während er vor den letzten Wahlen noch zahlreiche Kundgebungen organisierte, hält sich der AKP-Vorsitzende und Präsident Erdoğan etwas zurück. In der regierungsnahen Zeitung »Yeni Şafak« schrieb Mehmet Acet, dass Erdoğan die für Istanbul geplanten Kundgebungen abgesagt habe. Es wird quasi schon vorbereitet, die Niederlage bei den Wahlen in Istanbul nicht Erdoğan, sondern Yıldırım zuzuschreiben. Trotz dessen wird sich das »Duell Istanbul« direkt auf die politische Zukunft von Erdoğan und Yıldırım auswirken.

Aus dem Türkischen von Svenja Huck

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