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Die Ideen und die Leiber
Staatsschauspiel Dresden: Sebastian Hartmanns »Schuld und Sühne« nach Dostojewski
Viele Minuten steht eine Frau weit hinten auf leere Bühne, unaufhörlich vor sich hin murmelnd: »Katastrophe, Gewissen, Verstand, Weinen, Welt, Zeit ...«. Sie steht vor einer schier undurchdringlichen Nebelwand. Lange, sehr lange. Du möchtest diese grauweiße Wand bebildert sehen. Möchtest dich errettet wissen aus so farbloser Öde. Den Wunsch wirst du bereuen: Diese Wand wird zur Folter deines Gemüts. Warte nur, balde ...
Denn knapp zwei Stunden lang setzt uns Sebastian Hartmann einem nur schwer aushaltbaren Stakkato furchtbarster Fotos und Filmszenen aus: Krieg, Erschießungen, Explosionen, Blut, Galgen, Terror, Vietnam, Auschwitz, Irak, Palästina, Folter, Leichenberge, dazu die Politgrößen und Ideologie-Gurus aller Zeit, ihre Redeposen und die dazugehörigen Schlachtfelder. Grausam, peinigend, vor allem: unablässig. Ein optisches Inferno. Zu heftiger Musik von Samuel Wiese, dessen Bässe bedrohliche Vibration erzeugen.
»Schuld und Sühne«? Raskolnikow ist Avantgardist. Will nicht länger »ästhetische Laus« sein. In jener Pfandleiherin, die er tötet, bereinigt er doch »nur« das Niedrige. Hartmann erzählt am Staatsschauspiel Dresden aber nicht Fjodor Dostojewskis Roman, er installiert mit grandioser Konsequenz ein Empfinden. Er choreografiert sein Erschrecken über das, was aus Raskolnikows Geschichte heraus- und herübergiftet. Dialoge? Sprengsel. Drama? Klagefetzen. Russland? Allegorie. Zeit, Ort? Übertragbarkeit.
Wir sehen einen bildnerischen Blutsturz aus zertrümmerten Gesichtern und Marschkolonnen, aus Fliehenden und Schießenden, aus Mördern und Müttern - ein aufführungslanger Video-Schock, das legt sich über alle szenischen Momente. Dann, wenn das Ensemble ein Kirche hereinschiebt; dann, wenn es dies Haus mit den apokalyptischen Schwarzweiß-Malereien aufklappt; dann, wenn die Truppe beim Steuern und Lenken eines Stahlgerüstes - in der Mitte ein gleißendes Kreuz - ein bisschen ungelenke Gemeinsamkeit versucht. Immer und bei allem: Übermalung durch entsetzlichste Bilder. Wie Kainsmale, untilgbar.
Wenn die Projektionsfolter der Video-Collage beginnt, setzt am Fuße dieser Bilder ein Timecode ein, eine Wiederholungsschleife, immer wieder von Null bis 2019: zweitausend Jahre Entwicklung, und stets das Gleiche? Ja, schreit die Aufführung tiefverwundet. Und noch eine Erschießung. Und noch mehr Fliegen in einem afrikanischen Kindergesicht. Und noch ein toter Flüchtling am Strand.
Ich denke an Martin Mosebach, Büchner-Preisträger 2007. Er zitierte in seiner Dankesrede die flammende Terrorrede von Saint-Just aus »Dantons Tod«, bezeichnete dessen massenmörderische Doktrinen als »einzigartig zukunftsträchtige Deduktionen«. Das kalte Geschichtemachen, den hitzig wirkenden Naturgesetzen beigesellt? Ja. »Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt?« Mosebach schlug dann den Bogen einhundertfünfzig Jahre weiter, von Paris nach Posen, zu Himmlers berüchtigter Rede vor SS-Führern.
Rumor damals: Ist es statthaft, die Vorgeschichte hitlerscher Vernichtungsprogramme bis in die Aufklärung hinein zu verlängern? Der Historiker Heinrich August Winkler meinte, dieser Standpunkt sei schlichtweg »reaktionär« und »Geschichtsklitterung«. Mosebachs Kurz-Schluss von Saint-Just auf Himmler klitterte nicht, er rang sich zu einer erschütternden Logik durch, die Hartmann erneuert. Wenn zum Beispiel der Schriftsteller Imre Kertész Auschwitz nach wie vor für wiederholbar hielt, dann muss es im Umkehrschluss lang zurückführende Wurzeln für jenes Verhängnis geben, das die bürgerliche Wirklichkeit auch nach so langer Zeit nicht zum festen Boden werden ließ, sondern nur immer Decken aus dünnem Eis schafft. Selektion etwa ist ein Wort der Gegenwart, ein Blick von Europa nach Afrika reicht.
Die lichte Zukunft im 20. Jahrhundert: Sie erhellte die Welt - mit Suchscheinwerfern auf Wachtürmen. Auch das Morgen-Rot entpuppte sich als Morgen-Grauen. Der politische Extremismus war stets ein Krieg um reichlich Boden. Der wurde benötigt - für die Massengräber seiner vorgeblichen Reinheit, besser gesagt: seiner Säuberungen. Es ist der Büchner-Preisträger Volker Braun kaum mit Mosebach zu vergleichen, aber Braun hatte 2000 in seiner Preisrede über den »Inhalt des zupackenden zwanzigsten Jahrhunderts« gesprochen, er fragte: »Hat es nicht die Ideen verbraucht wie die Leiber oder, schlimmer gesagt, die Ideen realisiert, indem es die Leiber verbrauchte? (...) Wo es, in diesem Jahrhundert, um den Menschen ging, war an die Gesellschaft kaum gerührt, und wo man die Gesellschaft verändern wollte, wurde nach dem Menschen nicht lange gefragt.« Nihilismus ist der schärfste Gegensatz zur Revolution, aber just sie bringt sie ihn hervor - wenn der Opfer zu viele geworden sind und wenn die Phrasen allzu austauschbar werden.
Video-Wucht. Ist da noch Schauspielertheater möglich? Oder werden Darsteller als Zeichen benutzt? Sie werden nicht benutzt - sie sind Zeichen. Und wie jeder Chor Seele und Herz hat, so besitzt auch die Elementarteilchen-Ethik dieses Theaters eine Aura, die ganz aus dem neunköpfigen Ensemble kommt. Wie rigoros es Theater in eine »Kirche der Angst« (Schlingensief) und Text in eine Liturgie verwandelt. Partikel mit Aura. Elegisch undurchsichtig. Schrill. Lächelnd verneinunungsgierig.
Was sind das für verquält motorisch angelegte, körpermatte oder eruptive Existenzen, sie zucken, zappeln; sie stieren, beben, sinken wie blind Tastende ineinander. Gespenstische Organismen, zerrissen zwischen Selbstschaffung und Selbstvernichtung. Als habe ein Gott seinen achten Schöpfungstag erhalten - ein zynischer Tag für böse Experimente mit Marionetten der Haltlosigkeit. Die ihre Sätze spucken wie Auswürfe. Der große Brand des Sinns wird nicht mehr in die Sprache gelegt - Ausdruckskraft reicht nur noch als unruhiges Flackern eines Widerscheins. Bibeltexte gewimmert, Atem in Not - als erkenne er, dass im Kern der christlichen Botschaft (wie in jedem Glauben, wie in jeder von Erlösung befeuerten Gesinnung) eine Grausamkeit ohnegleichen am Werk ist: nämlich eine unermessliche Überforderung des Menschen durch das Absolute.
Immer wieder rennen die Spieler weitkreisig um die Bühne. Der Gummizellen-Marathon. Und immer wieder gelingt filmische Überblendung, als wüchsen die Schauspielergesichter, die Gesichte, unmittelbar aus den Dokumentaraufnahmen der Gequälten, Gejagten, Gekreuzigten, Gemordeten, Gepferchten - und Gewissenlosen. Reifröcke und Zylinder. Hauchdünne Kleider und Frack. Travestie und Nacktheit. Die Gesichter schwarz gefleckt wie Krieger in Tarnmontur: der Schmutz als Schutz. Man turnt, man tanzt, man taumelt. Eine Frau kauert am Boden, wie wesenlos, wie betäubt, sie umarmt einen Lautsprecher, aus dem Schussgeräusche bellen. Irre Metapher! Es ist, als umarme die Frau ein weinendes Kind: Wie bringt man ein besänftigtes Schweigen in diese brüllende Welt? Jetzt wird eine Kamera ins Publikum gerichtet. Ein einziges, schnelles Bild von zuschauender Menge offenbart uns: Wir inmitten aller Verwerfungen.
Was für Sebastian spricht, das ist sein ungebändigter Behauptungswille: Theater bleibt ihm ein Vorgang eigenen Rechts, der Texten nicht huldigt, sondern sie hernimmt als Material für düstere Laut-Malereien. Damit er inszeniert, müssen sich Zeit und Blut streiten, wer ausdauernder tropft. Atmosphäre als Erlebnis, das man auch erleiden wollen muss.
Dostojewski als Spiegel, der Vergangenheit als zukunftsdrohend aufscheinen lässt, und diese Fenster in die Vergangenheit lassen sich nicht schließen. Sie sind das schwarze Loch, das bleibt, die Augen der Toten darin wie Fragenblitze.
Am Ende ist die Bühne wieder leer. Rezitiert wird die Rede über »das unmögliche Theater« von Wolfram Lotz. Gleichsam eine Variation von Heiner Müller: Kunst müsse die Wirklichkeit »unmöglich machen«. Also: sie blamieren - und blockieren. Ein heiterer, frech fantasievoller Epilog. Die Truppe entspannt zuhörend. Entspannt und doch auch erschlagen. Wie du selbst. Im Kopf Blei, Bedürfnis nach Luft. Benommenheit.
Nächste Vorstellungen im August
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