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Die NSU-Netzwerke wirken fort
VS soll Akte des mutmaßlichen Lübcke-Mörders gelöscht haben / Womöglich weitere Täter
»Stoppt die rechte Gewalt«, steht auf einem schwarzen Transparent. Einige der am Dienstagabend in Berlin versammelten Antifaschisten halten Porträtbilder der NSU-Opfer in ihren Händen. Die von rund 50 Personen besuchte Kundgebung findet vor dem Eingang der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung statt. Die Aktivisten wollen an die rechte Hetze erinnern, die aus ihrer Sicht für den Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke mitverantwortlich ist. Neben anderen hatte auch die Stiftungsvorsitzende Erika Steinbach Stimmung gegen den Anfang Juni mutmaßlich von einem Neonazi erschossenen Regierungspräsidenten gemacht.
Friedrich Burschel von der Initiative NSU-Watch sagte auf der Veranstaltung: »Ein weiterer Mensch ist tot, und erneut müssen wir auf die Unterlassungen im NSU-Komplex hinweisen.« Burschel fordert die sofortige Freigabe aller Akten. Die Aktivitäten des Tatverdächtigen Stephan E. wurden bereits 2015 und 2016 im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss thematisiert. Die Dokumente sind für 120 Jahre gesperrt.
Welche Behördenakten über den Tatverdächtigen überhaupt noch verfügbar sind, ist unklar - trotz dessen jahrzehntelanger neonazistischer Betätigung. Nach Recherchen des Hessischen Rundfunks hat der Verfassungsschutz seine Akten über den mutmaßlichen Mörder bereits gelöscht. Ein Vorgehen, das erneut Fragen aufwirft: Zwar gibt es theoretisch eine Routine, nach der aus Datenschutzgründen nach fünf Jahren gespeicherte Informationen gelöscht werden sollen. Voraussetzung ist, dass in diesem Zeitraum keine neuen Erkenntnisse mehr über den Betroffenen hinzugekommen sind. In der Praxis wird diese Löschung jedoch oft nicht vorgenommen.
Im Zuge der NSU-Ermittlungen hatte zudem im Sommer 2012 der damalige hessische Innenminister Boris Rhein für diesbezügliche Akten ein Löschmoratorium veranlasst. Stephan E. war den Behörden nach bisherigen Kenntnissen zuletzt 2009 aufgefallen. »Sollten hier illegal Akten vernichtet worden sein, wäre das ein Skandal unerträglichen Ausmaßes«, erklärte Hermann Schaus, der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion. Mehrere Politiker des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag fordern nun die Freigabe der Dokumente. Mit Blick auf das Kasseler NSU-Mordopfer Halit Yozgat verbiete sich »eine weitere geheime Einstufung dieser Akten«, sagte jetzt selbst der CSU-Rechtsexperte Volker Ullrich.
Brisant in den bis ins Jahr 2134 verschlossenen Akten ist womöglich auch die Rolle des ehemaligen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme. Während der Ermordung des 21-jährigen Halit Yozgat, neuntes Opfer des NSU, am 6. April 2006 in einem Internetcafé als mutmaßliches neuntes Opfer des NSU, war Temme anwesend, will aber nichts gesehen haben. Er war im Visier der Ermittler, wurde aber von Verfassungsschutz und Politik geschützt. Später wurde Temme Mitarbeiter des Regierungspräsidiums Kassel - der Behörde, deren Chef der ermordete Lübcke war.
Das Landesamt für Verfassungsschutz erklärte am Mittwoch in einer Stellungnahme, dass die Akten physisch noch vorhanden seien, allerdings der Eintrag im elektronischen Datensystem gelöscht wurde.
Die Bundesanwaltschaft prüft derweil nach Medienberichten Hinweise auf weitere Täter im Fall des ermordeten Regierungspräsidenten. Nach Informationen von »Süddeutscher Zeitung«, NDR und WDR will ein Zeuge in der Tatnacht zwei Autos bemerkt haben, die in »aggressiver Manier« durch den Wohnort von Lübcke fuhren. 20 Minuten zuvor habe der Zeuge einen Schuss gehört. Bei der Durchsuchung der Wohnung von Stephan E. hätten die Ermittler zudem einen weiteren Autoschlüssel entdeckt, versteckt im CD-Fach eines Radios im Gäste-WC. Bis jetzt sei das dazugehörige Auto nicht gefunden worden. Antifaschistische Recherchegruppen hatten auf zahlreiche Verbindungen des Tatverdächtigen hingewiesen. So habe E. unter anderem über enge Kontakte zur NPD wie auch zu dem rechtsterroristischen Netzwerk »Combat 18« verfügt.
Zivilgesellschaftliche Initiativen warnten am Mittwoch vor weiteren rechten Gewalttaten. »Ein Jahr nach Urteil im NSU-Prozess bewahrheiten sich unsere schlimmsten Befürchtungen«, schrieb etwa die Initiative »NSU-Komplex auflösen«. »Die Neonazinetzwerke, die den NSU ermöglichten, wirken fort.«
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