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Wohnen einen Meter unter dem Meeresspiegel

Eine Familie von der Nordseeinsel Pellworm will Politiker vor Gericht bringen - für den Schutz des Klimas

  • Larissa Schwedes, Pellworm
  • Lesedauer: 5 Min.

Silke Backsen steht auf dem acht Meter hohen Deich von Pellworm und schaut durch ihr Fernglas Richtung Meer. Mit bloßem Auge ist das Wasser weit entfernt, es ist Ebbe. Doch der Schein trügt. Der Deich ist für die Nordseeinsel Pellworm eine Art Lebensversicherung. Ein paar Hundert Meter dahinter steht ein rotes Backsteinhaus. Hier sind die 49-jährige Silke, ihr Mann Jörg und ihre Kinder Sophie, Paul, Hannes und Jakob zu Hause. Als Biobauern züchten sie Rinder, halten Schafe, bauen Getreide an. Der Hof liegt einen Meter unter dem Meeresspiegel. Steigt der durch den Klimawandel an, tritt das Wasser eines Tages wohl über den Deich.

»Wir stehen an einem Scheideweg«, sagt Silke Backsen. »Ein weiteres Geradeaus wird es nicht mehr geben.« Klimaforscher geben ihr recht. Der Weltklimarat prognostiziert, dass der Meeresspiegel Ende des Jahrhunderts bis 77 Zentimeter höher liegen dürfte als Ende des vorherigen Jahrhunderts. Dass das Klima verrückt spielt, kostet die Backsens schon jetzt Geld. 2017 regnete es ohne Ende, alles stand unter Wasser. Der Hitzesommer 2018 trocknete alles aus. Das hieß: Weniger Getreide, zu wenig Futter für die Tiere, große Einbußen.

Damit Menschen wie die Backsens nicht ihre Existenzgrundlage verlieren, müssten drastische Maßnahmen her. 40 Prozent weniger Ausstoß des klimaschädlichen Gases CO2 als 1990 - so das Ziel, das von mehreren Bundesregierungen bekräftigt wurde. Je näher 2020 kommt, desto seltener wird das Ziel erwähnt. Stattdessen bekennt man sich zu einem Ziel für 2030.

Die Backsens wollen das nicht akzeptieren. »Man wacht nicht morgens auf und entschließt sich beim ersten Kaffee, Frau Merkel zu verklagen«, sagt Silke Backsen. Doch die Familie hat sich entschieden. Gemeinsam mit zwei anderen Bauernfamilien und Greenpeace verklagen sie die Regierung. Sie sehen ihre Grundrechte auf Schutz von Leben und Gesundheit, auf Berufsfreiheit und Eigentum verletzt. »Die deutsche Regierung soll nicht mit ihrem Nichtstun davonkommen«, sagt Anike Peters, die bei Greenpeace die Klage betreut. Peters hat Halligen und Inseln abgeklappert, mit Landwirten vom Festland gesprochen. Mit rund 100 potenziellen Klägern hatte sie Kontakt, bis sie die drei Familien traf, die »Ja« sagten. Die Kläger von Pellworm sind nicht nur Silke und Jörg Backsen. Für den 14-jährigen Jakob war sofort klar: Ich bin dabei. »Wenn wir es nicht machen, wird nicht viel passieren«, meint er. Auch seine Geschwister sind im Boot. Seit sie vor Monaten die Klageschrift beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht haben, warten die Kläger. Die Regierung hat das Umweltministerium für zuständig erklärt und sich bereits zweimal mehr Zeit erbeten.

Während Silke ihr Anliegen in die Welt trägt, fühlt sich ihr Mann am wohlsten zwischen Kuhstall und Weide. Schon vor Sonnenaufgang trifft man den 59-Jährigen draußen. Als Greenpeace anklopfte, sagte er noch vor seiner Frau »Ja« zum Klagen.

Aus Berlin kommt Rückenwind für die Backsens. Matthias Miersch sitzt für die SPD im Bundestag. »Wir brauchen gesellschaftspolitisches Engagement, das Politik unter Druck setzt«, meint er. Umweltrechtler Bernhard Wegener von der Universität Erlangen-Nürnberg ist bekannt dafür, dass er sich für Klagerechte der Umweltverbände einsetzt. Eine Klimaklage ist für ihn der falsche Weg. »Die mit den Klimaklagen angestrebte Weltrettung per Gerichtsbeschluss ist juristisch schwer begründbar, im Ergebnis illusorisch und wenigstens potenziell gefährlich«, sagte er. Wenn Klimakläger Erfolg hätten, müssten Gerichte die Politik in die Schranken weisen und konkrete Ansagen machen. Doch mit dieser »Menschheitsaufgabe« wären sie maßlos überfordert.

»Als die Klage öffentlich wurde, habe ich irgendwie auf einen großen Knall gewartet«, sagt Silke Backsen. Doch es blieb ziemlich still. »Irgendwann habe ich gemerkt, dass die Menschen eher über uns reden als mit uns.« Um das zu ändern, haben die Backsens ihre Mitbürger eingeladen - zum Erklären und Diskutieren. Im »Danzsool Pellworm« sind Holzstühle aufgestellt. Der Saal füllte sich bis auf den letzten Platz. Die Pellwormer haben Fragen mitgebracht. »Oh Gott, was tun die beiden sich da an?«, sei sein erster Gedanke gewesen, erzählt ein älterer Herr. Aber es gibt auch die Neu-Zugezogene Isabelle Sommer, die fragt: »Was wäre, wenn die ganze Insel klagt?« Die Backsens und Anike Peters von Greenpeace sind begeistert.

Pellworm wird von Jahr zu Jahr leerer. Junge ziehen weg, Arbeit und Abwechslung fehlen. Warum also etwas retten, das ohnehin auf dem Abstieg ist? Doch der Weckruf von Pellworm ist größer als die Insel. Silke Backsen stammt von dort, wo die Kohle zu Hause ist - aus dem Ruhrgebiet. »Kohle ist eine der schäbigsten Energieerzeugungen. Doch singe jemand «Glück auf», das alte Lied der Bergleute, bekomme sie eine Gänsehaut. Doch das Wissen, dass Energie aus Kohle dazu beitragen kann, Orte unbewohnbar zu machen, hat sie zur Anwältin für Klimaschutz gemacht.

Was würde geschehen, wenn die Backsens und ihre Mitstreiter Recht bekämen? Greenpeace meint: Im besten Fall müsste die Bundesregierung verpflichtet werden, alles Mögliche zu tun, um das Klimaziel für 2020 doch noch zu erreichen. Dass die Klage Erfolg hat, ist für Juristen wie Wegener unwahrscheinlich. Es müsste nachweisbar sein, dass die Grundrechte der Kläger durch das Unterlassen staatlicher Maßnahmen verletzt seien. Strittig ist dabei, ob Schutzmaßnahmen ausreichend effektiv sind. Das dürfte schwer nachzuweisen sein.

Anfangs habe es sich absurd angefühlt, die Regierung zu verklagen, so Silke Backsen - und mittlerweile richtig gut. Doch was, wenn das Gericht die Klage abweist? Geht die Insel dann unter? So schnell wollen die Pellwormer nicht aufgeben. Der Deich soll in den nächsten Jahren erhöht und verbreitert werden. dpa/nd

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