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Der Coverboy ist 74
Ausgerechnet Eddy Merckx ist das Gesicht des Tour-Auftakts 2019.
Die 106. Tour de France beginnt in Belgien. Sie feiert dort den Lokalhelden Eddy Merckx, der vor 50 Jahren seine erste Tour gewann. Der Ausflug in die Vergangenheit kaschiert ein wenig die maue Gegenwart. Mit Chris Froome und Tom Dumoulin sind zwei der besten Rundfahrer gar nicht am Start. Die neuen Ineos-Kapitäne Geraint Thomas und Egan Bernal aber auch die meisten ihrer Herausforderer hatten eine durch Stürze und Rückschläge beeinträchtigte Vorbereitung. Kein Wunder also, dass der Coverboy ein 74-Jähriger ist.
Belgien hat einen König, Philippe heißt er und ist seit 2013 im Amt. Dieser Tage regiert jedoch König Eddy. Überall sind in der Hauptstadt Brüssel Poster von Eddy Merckx angebracht. Auf Straßenbeläge und Hausfassaden ist in gelber Farbe aufgesprüht: »Are you r’Eddy?«. Der Platz in einem Brüsseler Vorort, zu dem hin sich die Tür des Lebensmittelgeschäfts seiner Eltern öffnete, wurde vor ein paar Wochen gar in Square Eddy Merckx umbenannt.
Wegen seines unbändigen Siegeshungers nannten sie ihn nur den »Kannibalen«: Der Belgier Édouard Louis Joseph Baron Merckx, Jahrgang 1945, ist bis heute der erfolgreichste Radprofi aller Zeiten. Er gewann jeweils fünf Mal die beiden wichtigsten Etappenrennen des Straßenradsports: die Tour de France und den Giro d’Italia. Er wurde 1964 Amateurweltmeister und holte sich den Profititel 1967, 1971 und 1974. Zudem triumphierte er bei den fünf Monumenten des Radsports (Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich, Lombardei-Rundfahrt) jeweils mindestens zweimal. jig
Foto: dpa/Thibault Camus
Brüssel ist im Merckx-Fieber, im von oben gelenkten Merckx-Fieber zumindest. Sogar König Philippe ist davon angesteckt. »Ich möchte mich im Namen des Landes bedanken«, teilte der Monarch in einem offiziellen Brief an Merckx mit. »Unser Land war auf Wolke sieben damals. Ich war neun Jahre alt, gerade alt genug, um die Wirkung zu ermessen, die es hatte. Ich erinnere mich noch heute an die Aufregung und die Freude, die die Menschen im Land hatten«, setzte er seine Eloge fort und pries Merckx schließlich als »Legende, Modell und Helden«.
Eine Legende ist er. Wie Merckx den Toursieg holte, war formidabel. In Erinnerung blieb vor allem seine 140 Kilometer lange Solofahrt über die Pyrenäen. Acht Minuten Vorsprung holte er nach seinem Parforceritt über Tourmalet und Col d’Aubisque auf die Verfolger heraus. Das Besondere daran: Schon vor dem Start der Etappe hatte er einen beruhigenden Vorsprung von etwa acht Minuten. Aber diesem Kraft strotzenden Burschen reichte das nicht. Deshalb zog er los, allein, und gegen jegliche Radsportvernunft.
Zeitgenossen deuteten dies als ultimative Machtdemonstration, als Kannibalismus. Als »Kannibale« wurde er wegen seiner Gefräßigkeit bei Siegen bezeichnet. 1969 war er überhungrig: Sechs Etappensiege holte er, dazu kommt noch der Sieg seines Teams Faema im Mannschaftszeitfahren. Punkte- und Bergtrikot sowie die Kombinationswertung gewann er auch noch. Überlegener siegen geht kaum.
Merckx war aber auch mit Wut im Bauch zum Tourauftakt gereist. Denn einen knappen Monat zuvor war er vom Giro d’Italia ausgeschlossen worden, wegen einer positiven Dopingprobe. Die Umstände waren kurios. Es war erst das zweite Jahr, in dem der Giro Dopingkontrollen durchführte. Die Analyse erfolgte in einem mobilen Laboratorium. Die Organisatoren wollten so den Prozess beschleunigen. Beim Giro 1968, dem ersten mit Dopingtests, waren zwar acht Fahrer mit positiven Proben erwischt worden. Die Ergebnisse kamen aber erst ein paar Tage nach Ende der Rundfahrt. Deshalb im Jahr darauf das mobile Labor. Dort aber wurde die B-Probe ohne die Anwesenheit von Merckx oder einem seiner Anwälte geöffnet und analysiert. Nach heutigen Maßstäben hätte Merckx deswegen nicht verurteilt werden dürfen. Der Ausschluss vom Giro war aber entschieden. Die belgische Presse witterte ein Komplott. Die königliche Familie stellte ein Flugzeug zur Verfügung, um den verstörten Helden Merckx heimzuholen. Daran erinnerte König Philippe jetzt nicht.
Der Weltradsportverband UCI entschied kurzerhand, die einmonatige Sperre nach dem Giro so zu verkürzen, dass Merckx die Tour de France in Angriff nehmen konnte. Die begann in jenem Jahr schließlich auch in Belgien. Das Teamzeitfahren ging sogar über die Straßen von Woluwe-Saint-Pierre - ein Vororts von Brüssel, in dem Merckx aufgewachsen ist und der jetzt den Eddy-Merckx-Platz beherbergt. Merckx beim Start in Belgien nicht dabei gehabt zu haben, hätte für sein Team großes Ungemach bedeutet. Merckx’ Frau Claudine schätzte, dass ihr Mann in jenen Wochen 10 000 Unterstützerbriefe erhielt und sie die gesamte Tour über beschäftigt war, all diese Briefe zu beantworten. Das waren die Zeiten, in denen eine Unterstützung nicht mit dem Klicken eines Like-Buttons zu erledigen war; man musste noch echtes Papier kaufen, selber schreiben, eine Briefmarke besorgen, sie aufkleben und den Brief oder die Karte in einen Briefkasten einwerfen - echte physische Arbeit also.
Das Stimulanzmittel, das bei Merckx gefunden wurde, war übrigens das gleiche, das beim Giro zuvor bei seinem härtesten Rivalen Felice Gimondi entdeckt worden war. Merckx selbst wurde in späteren Jahren noch zweimal mit Stimulanzien erwischt und erhielt jeweils eine einmonatige Sperre. Die Ausrichter der Rad-WM 2007 in Stuttgart luden deswegen auch den von der UCI damals als Ehrengast vorgesehenen Merckx von den Welttitelkämpfen aus. Merckx sei kein Vorbild für junge Sportler, hieß es damals. Die Tour de France sieht das anders.
Die Amaury Sport Organisation (ASO) hob 2002 gemeinsam mit Merckx die Katar-Rundfahrt aus der Taufe. Merckx ist oft Gast bei anderen ASO-Events. Bei der Einweihung des Eddy-Merckx-Platzes in Brüssel war Tourdirektor Christian Prudhomme selbstverständlich zugegen.
Die Vergangenheit wird in ein sanftes Licht getaucht, eben auch, weil die Gegenwart nicht gar so schön ist. Die beiden stärksten Rundfahrer der Gegenwart, der vierfache Toursieger Chris Froome sowie der Girosieger von 2017 und letztjährige Tourzweite Tom Dumoulin, nehmen aus Verletzungsgründen gar nicht an der Tour teil. An Froome klebt zudem noch der Makel der Salbutamol-Affäre. Die Dopingermittlung »Aderlass« schließlich hat nachgewiesen, dass in Profikreisen weiterhin mit EPO und Blutkonserven gedopt wird. Die Betrugsvergangenheit ist nicht überwunden. Und das Ankuscheln an Merckx - ein großer Rennfahrer, aber kein makelloser Held - ist eine bedenkliche Weichenstellung.
Sportlich immerhin ist die Ausgangslage vor Beginn dieses 3480 Kilometer langen Rennens offen wie lange nicht. Titelverteidiger Geraint Thomas genoss zunächst ausgiebig die Feierlichkeiten nach seinem Sieg im letzten Juli und startete mit Fitnessrückstand in die Saison. Sein Sturz bei der Tour de Suisse erschwerte die Vorbereitung zusätzlich. Teamkollege Egan Bernal holte dann zwar den Sieg in der Schweiz. Aber die Saison des Kolumbianers verlief durch den Schlüsselbeinbruch kurz vor dem Giro alles andere als plangemäß. Dass Team Ineos ihn offiziell zum Co-Leader deklarierte, weist auf die internen Zweifel an der Form von Thomas hin.
Aber auch die Konkurrenz wirkt nicht topfit. Movistar kommt nun doch wieder mit einem Leadertrio an. Bereits in der Vergangenheit fiel der spanische Rennstall nicht mit optimaler Renntaktik für die drei Asse Nairo Quintana, Alejandro Valverde und Mikel Landa auf. Strategisch besser ist das kletterstarke Team Astana. Mit dem Dänen Jakob Fuglsang haben die Kasachen allerdings nicht den perfekten Vollender für eine Grand Tour. Bei weiteren Podiumskandidaten wie dem Briten Adam Yates, den Franzosen Romain Bardet und Thibaut Pinot, dem Australier Richie Porte und dem Italiener Fabio Aru sind die Fragezeichen wegen jeweils nicht perfektem Saisonverlauf mindestens so groß wie die Ambitionen. Gespannt sein darf man auf die Vorstellung von Bora-hansgrohe mit den Co-Kapitänen Emanuel Buchmann und Patrick Konrad sowie dem neuen deutschen Meister Maximilian Schachmann. Dass es gegen Ineos in der Gesamtwertung reicht, ist aber kaum zu erwarten.
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