Was ich durch meine Schwestern über Männlichkeit lernte

Fikri Anıl Altıntas über toxische Männlichkeit und rassistische Stereotype

  • Fikri Anıl Altıntas
  • Lesedauer: 5 Min.

Abends liefen bei uns im Wohnzimmer immer türkische Soaps. Geschichten von Liebesbeziehungen in Istanbul, ein reicher Mann verliebt sich in eine Frau vom Dorf, die es nicht so gut hat. Eine Liebe, die nicht sein darf, aber am Ende alle Grenzen überwindet. Meine Eltern schauten damals wie heute gebannt auf den Bildschirm und lauschten den vorhersehbaren Dialogen.

Eines Abends, ich bin ungefähr 10 Jahre alt, unterbrach meine Schwester die Langeweile und schlug vor: »Komm, lass uns das neue Maniküreset von Mama ausprobieren. Ich lackiere dir die Fingernägel, ich habe eine neue Farbe gekauft!« Ich erwiderte: »Nein! Was soll das bringen?« Sie antwortete stolz: »Es lässt deine Hand noch schöner aussehen. Glaub mir, du wirst es merken!« Ich zögerte für einen Moment und ließ mich dann jedoch von dem erwartungsfrohen Blick meiner Schwester überreden. Keine fünf Minuten später saßen wir auf dem Wohnzimmerboden, polierten und feilten uns die Fingernägel, gaben uns Handmassagen und trugen den neuen Nagellack auf. Es gefiel mir. Ich hatte meine Hände noch nie so glänzen sehen. Ich fühlte mich schön, aber auf eine Art und Weise, die ich nicht kannte - und die mir vielleicht auch nicht gezeigt werden sollte.

Ich will herausfinden, wer ich als Mann bin.

Dieser Moment vor 17 Jahren beschäftigt mich noch heute. Ich will herausfinden, wer ich als Mann bin und fange an, darüber mit meiner
Familie und vor allem mit meinen Schwestern zu reden. Was Männlichkeit für sie bedeutet und was meine Beziehungen zu ihnen bei mir verändert hat.

Ich habe zwei ältere Geschwister. Meine jüngere Schwester, mit der ich gemeinsam aufgewachsen bin, ist mittlerweile 32 Jahre alt, verheiratet und hat gerade ihr erstes Kind bekommen. Aus der ersten Ehe meines Vaters habe ich eine ältere Schwester. Sie ist 48 Jahre alt, lebt in Stuttgart und hat einen älteren Sohn.

Meine jüngere Schwester erzählt, wie ihr Bild von Männlichkeit geprägt wurde. Schon seit ihrer Kindheit sei sie immer diejenige gewesen, die unseren Vater beim Handwerken helfen musste. »Immer wenn er nach uns gerufen hat, um eine Kleinigkeit wie Betten oder Schränke aufzubauen oder nur einen kleinen Nagel in die Wand zu hauen, habe ich geholfen - nicht du.«

Es stimmt, ich hasste Handwerken. Das habe ich mir damit erklärt, dass mein Vater immer so viel von mir erwartete, und ich es nie hinbekommen habe. Aber eine Sache war mir neu: »Du hast in deiner Familie immer starke Frauen an deiner Seite gehabt. Deine große Schwester, mich, Mama. Deine Stützen im Leben waren alles starke Frauen. Und du wurdest verschont, weil du der Jüngste warst. Die typischen Männerrollen hast du nie erfüllen müssen, weil wir das gemacht haben. Das war untypisch für einen türkischen Jungen.«

Unsere Erfahrungen zeigen, wie Männlichkeit konstruiert wird.

Ich muss schlucken. Mir war klar, dass ich bestimmte Dinge nicht machen musste, weil ich der Kleine war. Aber wie stark mich das in meiner Vorstellung von Männlichkeit beeinflusst hat, merke ich erst jetzt. Auch heute finde ich Handwerken langweilig. Auto fahren ist für mich, im Gegensatz zu meiner Schwester, im besten Fall etwas Funktionales, sprich: Ich kann es weder gut noch mache ich es gerne. Unsere Erfahrungen zeigen, wie Männlichkeitsbilder konstruiert werden.

Während meine Schwester mir in unserem Gespräch rückblickend erzählt, dass sie aus familiärer Notwendigkeit viele Dinge machen musste, die auch ich hätte machen können, verband uns aber eine Sache: Wir beide machten Diskriminierungserfahrungen.

Bei mir waren es die typischen Erfahrungen: Keine Rückmeldungen zu Bewerbungen auf Jobs oder Wohnungen, skeptische Blicke in Bus und Bahn oder ständige Kommentare darüber, wie gut denn mein Deutsch sei.

Die Erfahrungen meiner Schwester sind ähnlich. Als sie ihren deutschen Kolleg*innen und Freund*innen erzählte, dass ihr Mann aus der Türkei kommt, wurde sie gefragt, ob sie sich für die Hochzeit selbst entschieden habe. Eine so integrierte Frau könne doch nicht mit jemandem aus der Türkei zusammen sein! Vor vier Jahren war sie beim HNO-Arzt. Nach der Behandlung sagte der Arzt, dass sie nicht Auto fahren dürfe und fragte, ob sie jemand nach Hause fahren könne. Meine Schwester bejahte dies und erzählte von ihrer Heirat mit einem türkischen Mann. »Dann fragte er mich allen Ernstes, ob er mir helfen soll, er könne auch die Polizei anrufen. Er hat gedacht, es wäre eine Zwangsehe.«

Männlichkeitsbilder auf der Grundlage rassistischer Zuschreibungen

Es ist das Bild des patriarchalen, wilden und unzivilisierten türkischen Mannes, der die in Deutschland aufgewachsene Frau für sich einnimmt und unterdrückt. Der (orientalistische) Rassismus wurde ihr quasi nach dem Arztbesuch mit auf das Rezept geschrieben, ohne zu wissen, wie sie damit umgehen soll und welche Nebenwirkungen es für sie, aber auch für mich hat.

Denn die deutsche Gesellschaft konstruiert (türkische) Männlichkeitsbilder auf der Grundlage rassistischer Zuschreibungen und Haltungen, unter denen ich zwischen patriarchalischen Strukturen und orientalistischen Erwartungshaltungen in einer Ambivalenz verstrickt war, die mein Männlichkeitsbild prägte. Meine Schwester musste am eigenen Leib erfahren, wie sie entfremdet und mit
dem Gefühl konfrontiert wurde, vor dem wilden Mann »geschützt« werden zu müssen. Nach ihrer Einschätzung fragte niemand. Aber ihre Diskriminierungserfahrungen zeigten mir einmal mehr, wie stark wir beide unter rassistischen Gesellschaftsstrukturen leiden mussten - auf unterschiedlichen Ebenen.

Früher mag die Maniküre mit meiner Schwester ein Zeitvertreib gewesen sein, aber sie hat mich sehr darin bestärkt, mein Männlichkeitsbild selber zu bestimmen, mich nicht vereinnahmen zu lassen und vor allem: zu akzeptieren, dass ich so bin, wie ich bin. Nächste Woche löse ich mein Geburtstagsgeschenk ein: Maniküre-und Pediküre Tag mit meinen besten Freundinnen. Und ja, es fühlt sich genauso so schön an wie damals.

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