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Im Remix liegt die Kraft
Das Festival »Wassermusik« dreht sich um afro-diasporische Kulturen. Alles fließt? Schön wär’s.
Das Festival »Wassermusik« am Haus der Kulturen der Welt hat niemand Geringeres als Milton Nascimento eröffnet, der 1972 auf dem Album »Clube da Esquina« der Música Popular Brasileira den Weg bereitete; mit einer neuartigen Mischung von Bossa-Nova, Samba und indigener Musik, spanischen und arabischen Einflüssen, Pop und Jazz. Nascimento, der mit internationalen Größen wie Herbie Hancock und Quincy Jones aufnahm, ist inzwischen 76 Jahre alt. Nachdem man ihn auf die Bühne geleitet hat, lässt er sich auf einem Hocker nieder, zu gebrechlich, um noch einmal aufzustehen. Von der Stimme des großen Musikers ist zunächst kaum ein Hauchen zu vernehmen.
Ein Vierteljahrhundert ist es her, seit der Historiker Paul Gilroy sein Buch »The Black Atlantic - Modernity and Double Consciousness« veröffentlichte. Darin entwarf er ein Bild der Moderne, das ihr zuwiderläuft: Statt die Geschichte des ewigen Fortschritts zu umschreiben, lenkte er den Blick auf jenen mehrdimensionalen Raum, der sich aus der »Middle Passage«, dem Schauplatz des atlantischen Sklavenhandels, ergeben hat. Denn die Wechselwirkungen, die sich infolgedessen zwischen den Kulturen fortgesponnen haben, sind einzigartig. Seither habe sich die afrikanische Diaspora, eingeschrieben in die Musik, so Gilroy, parallel zu nationalen Erzählungen entwickelt. Wissenschaftler*innen beziehen sich auf das Konzept des »Black Atlantic«, um etwa Fragen der Zugehörigkeit jenseits der Nation zu betrachten. Gilroys Theorie dekonstruierte nicht nur die lineare Geschichtsschreibung, sondern auch die globale Schwarze Community, weil sie essenzialistische Ansätze entbehrt.
»Durch Paul Gilroy habe ich Ska, Reggae, Dancehall mit neuen Ohren wahrgenommen«, erinnert sich Detlef Diederichsen. Während der Kurator von »Wassermusik« über den US-Bestandteil des »Black Atlantic«, beispielsweise den Blues, unterrichtet war, sensibilisierte ihn erst Gilroys Werk für den musikalischen Austausch, der in den ehemaligen britischen Kolonien und im rassistisch geprägten England der 50er Jahre stattfand. Folglich bekommt Diederichsen heute noch »leichte Gänsehaut«, wenn jemand Reggae-Schlagzeug spielt, der nicht damit aufgewachsen ist. Gleich, welche Hautfarbe der Musiker habe: »Das klingt zickig«, als wenn Jazz gespielt wird, der nicht swingt. Bereits 2004 kuratierte Diederichsen ein Projekt unter dem gleichem Namen, das sich dem »Black Atlantic« widmete. Im Haus der Kulturen der Welt (HKW) folgt nun die Neuauflage, mit einem erweiterten Fokus auf die Länder des atlantischen Südens wie Brasilien und Kolumbien.
Der Fantasyfilm »Besouro« von João Daniel Tikhomiroff erzählt die magische Geschichte eines Heranwachsenden in der Region Bahia, wo Schwarze wie er auch 40 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei wie Leibeigene schuften müssen. Nach einem tragischen Zwischenfall tritt der junge Besouro das Erbe seines Capoeira-Meisters an und setzt im Widerstand gegen Plantagenbesitzer nicht nur die Gesetze der Physik außer Kraft, sondern auch Zwangsarbeit und Rassismus. So lautet die Legende vom berühmtesten Capoeira-Tänzer Brasiliens, Manuel Henrique Pereira. Während sich das subversive Potenzial des »Black Atlantic« mittels eindrucksvoll choreografierter Kampfszenen manifestiert, ist es um die Macht der Musik, den eigentlichen Eckpfeiler des »Black Atlantic«, weitaus schlechter bestellt.
Im Rahmen der Konferenz »Echoes of the South Atlantic« hat Paul Gilroy persönlich geprüft, ob seine Thesen von 1973 heute noch zutreffen. Seine Rede beginnt ernüchternd: »Ich fürchte, die Argumente, die den ›Black Atlantic‹ ermöglichten, wirken nur schwerlich im heutigen politischen Kontext.« Und gibt Musikbeispiele von Lord Kitchener, Brenda Fassie bis Mighty Diamonds, Weggefährten und Poesie zitierend. Die Rastafaribewegung, in der der von Panafrikanismus und Sozialismus geprägte Ethiopianism einstmals philosophisch relevante Früchte trug, habe ihr kommunitaristisches Element längst eingebüßt: »Der Neoliberalismus hat triumphiert«, so Gilroy. »In einer streng in Gewinner und Verlierer geteilten Welt gibt es keine maßgeblichen Aufrufe mehr dazu, sich von geistiger Versklavung zu befreien.« Angesichts von Klimakrise und Migration breite sich ein nihilistischer Zeitgeist aus, bei dem Ultra-Nationalisten und Neofaschisten Regierungen vor sich hertreiben und deren Handlungsspielraum auf Sicherheitspolitik und Abschottung schrumpft. Doch auch an den technologischen Entwicklungen liege es, dass die transnationale Sprache, die in Reggae und Dub begründet ist, an Vokabular verliere. Während die leichtfüßige Musik der Rastafari noch eine dynamische und intersubjektive Geschichtsschreibung ermöglichte, produzieren Musiker*innen heute eher für sich, allein im Schlafzimmer. Auf der Strecke bleibt dabei laut Gilroy das konstituierende Element der Performanz in alternativen Öffentlichkeiten - wie die »heilige Aufgabe« des Mixens und Remixens. Heilig, weil sie die Wonnen des Neubeginns in Musikform zu institutionalisieren vermag. »Mit solchen ästhetischen Mitteln wurde die Zeit überwunden«, erklärt Gilroy. Afro-diasporische Klänge wandelten sich zu mehr, als ein »Redemption-Song« jemals in Worte fassen konnte: zu Erholung, zu Heilung.
Ein unbehagliches Gefühl kommt während Gilroys Rede auf. All das soll unmöglich geworden sein? Die komplette Desillusionierung federn zum Glück Les Amazones d’Afrique ab - ein loser Verbund von Künstlerinnen, der sich 2015 in Mali als Reaktion auf misogyne Gewalt formierte. Mit ihren Liedern klagen sie Mütter an, die ihre Töchter der Genitalverstümmelung unterziehen, und mahnen, dass Ehemännern kein Recht auf Schläge verbrieft sei. »Wir müssen die Gewalt gegen Frauen stoppen!«, rufen sie auch bei ihrem Auftritt im Haus der Kulturen der Welt. »Die Amazonen sind hier, um die Redefreiheit der Frauen zu verteidigen!« Obgleich weitaus konkreter als die symbolische Heilung, von der Gilroy spricht: Die Begeisterung von Mamani Keita, Fafa Ruffino und Kandy Guira und ihre Mischung aus zeitgenössischer Elektronik und westafrikanischen Musiktraditionen hat ihre ganz eigene Wirkung getan: Selbst Wolkenbrüche konnten das tanzfreudige Publikum nicht davon abhalten, im Namen der Frauenrechte zu feiern.
Und da ist auch noch die Rede von Felwine Sarr. Der Ökonom und Romancier, der zuletzt an der Seite von Bénédicte Savoy die Restitutionsmöglichkeiten afrikanischer Kulturgüter erforschte, stiftet Hoffnung: »Ein Mehr an Menschlichkeit könnte darin gründen, Fortschritt als Produktion von Beziehungen zu begreifen, die für alle Beteiligten einen Mehrwert bringen.« Ein dringend benötigter Paradigmenwechsel, angesichts einer Krise der Beziehungsgeflechte, wo das Prinzip Konkurrenz die Kooperation dominiert und das globale Miteinander sich als Schlachtfeld entpuppt. »Die Utopie, die wir reaktivieren müssen, handelt von einer Welt, die wir teilen«, sprach Sarr, »wo wir den Begriff der Gemeinschaft auf Ausländer, Tiere, Pflanzen, Vorfahren und die Erde erweitern und auf jene, die noch nicht geboren sind.« Gerade weil die westliche Idee einer einzigen Geschichte offenkundig gescheitert ist, müssen nun besonders die Länder Afrikas ihr Schicksal, ihre Zukunft mittels eigener Mythologien neu erfinden. So, wie es im »Black Atlantic« schon einmal gelang.
»Wassermusik: Black Atlantic Revisited« bis zum 27. Juli am Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
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