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Von der Straße in die Box
Können »Verrichtungsboxen« die Probleme am Straßenstrich Kurfürstenstraße lösen?
Die Anwohner*innen rund um die Kurfürstenstraße zwischen den Bezirken Mitte und Tempelhof-Schöneberg haben schon lange die Schnauze voll von den Zuständen auf dem Straßenstrich direkt vor ihrer Haustür. Der habe sich in den letzten Jahren stark verändert, stellt der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), bei einem Pressegespräch am Freitag fest. Mittlerweile gebe es einen regelrechten Sextourismus zur Kurfürstenstraße, da diese offensiv als Ort für Billigsex beworben werde. Die Folgen: immer mehr Verschmutzung, gestiegene Unsicherheit der Anwohnenden durch die massive Präsenz der Zuhälter und Kunden und zunehmend offener sexueller Vollzug, teilweise in unmittelbarer Nähe der Wohnungen der Anwohnenden, so von Dassel.
Unter den Zuständen in der Kurfürstenstraße würden jedoch nicht nur die Anwohner*innen, sondern auch die Sexarbeiter*innen leiden: »Viele Frauen dort werden zur Prostitution gezwungen«, ist von Dassel überzeugt. Die Sexarbeit würde zum Teil über kriminelle Strukturen, etwa über Menschenhandel, finanzielle Ausbeutung und die Ausübung von Zwang organisiert. Mindestens die Hälfte der Sexarbeiter*innen im Kurfürstenkiez arbeite dort nicht freiwillig, schätzt von Dassel. Laut Gewaltschutzambulanz der Charité seien die Prostituierten dort »erheblicher und täglicher Gewaltanwendung von Freiern und Zuhältern« ausgesetzt.
Diese Zustände würden auch die Drogensucht vieler der Frauen befördern: So sei ein hoher Anteil der Sexarbeitenden erst im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Kurfürstenstraße suchtkrank geworden oder an HIV oder anderen sexuell übertragbaren Krankheiten erkrankt. Auch seien nur die wenigsten als Sexarbeitende angemeldet und ließen sich beraten und gesundheitlich untersuchen. »Wir schaffen also die Rahmenbedingungen dafür, dass Frauen zur Prostitution gezwungen und suchtkrank werden und Gewalt ausgesetzt sind.«
Das will der Bezirksbürgermeister ändern. Doch wie das gehen könnte, ist höchst umstritten. Ein Verbot der Straßenprostitution, wie es einige Anwohner*innen und Gewerbetreibende fordern, kommt für den rot-rot-grünen Senat nicht infrage, weil er dadurch eine Verschlechterung der Gesamtsituation befürchtet. Die Maßnahmen des Bezirks zur sozialen und hygienischen Verbesserung der Situation vor Ort würden die Probleme zwar vermindern, lösen sie aber laut von Dassel nicht nachhaltig.
Der vom Senat im vergangenen Jahr eingesetzte Runde Tisch Sexarbeit schlägt daher eine andere Lösung vor: sogenannte Verrichtungsboxen, die den Vollzug sexueller Leistungen aus dem öffentlichen Raum verlagern und die Sicherheit der Sexarbeiter*innen erhöhen sollen. Vorbild für den Vorstoß ist die Stadt Köln, an dessen Stadtrand seit 2002 Verrichtungsboxen stehen, in die Freier mit ihren Autos hineinfahren können. Die Boxen sind so konzipiert, dass die Prostituierten in Notsituationen aussteigen können, die Fahrer aber nur schwer aus dem Wagen kommen. Für Notfälle gibt es einen Alarmknopf neben der Beifahrertür. Die Bilanz: Die Gewalt gegen Sexarbeitende hat rapide abgenommen.
Für von Dassel »ein guter Kompromiss« - allerdings nur, wenn dies wie in Köln auch mit einem Sperrgebiet einhergeht, in dem Prostitution verboten ist. Zwar drohe dadurch eine Verdrängung in andere Bezirke, freiwillige Verrichtungsboxen als lediglich zusätzliches Angebot würden die Situation der Sexarbeitenden und der Anwohnenden im Kurfürstenkiez jedoch nur marginal verbessern.
Mit dieser Position steht der grüne Bezirksbürgermeister allerdings ziemlich alleine da, sowohl der Senat als auch seine eigene Partei lehnen Sperrbezirke bislang ab. Nicht die einzige Frage, bei der es noch Gesprächsbedarf gibt: Bisher ist geplant, die Boxen unter dem U-Bahn-Viadukt am Bülowbogen aufzustellen. Aus Platzgründen sollen sie jedoch nicht mit dem Auto ansteuerbar sein. Ein Fehler, wie von Dassel findet: »Wir brauchen Verrichtungsboxen, in die man auch mit dem Auto fahren kann«, sagt er. Schließlich kämen die wenigsten Freier zu Fuß in den Kurfürstenkiez.
Für von Dassel ist klar: Wenn an der Bülowstraße nicht genügend Platz vorhanden ist, müssen bessere Orte gefunden werden. Etwa am zentralen Festplatz im Wedding oder auf den Parkplätzen am ehemaligen Flughafen Tempelhof. Wo genau die Boxen am Ende stehen und wie groß sie sein werden, darüber müsse jetzt geredet werden. Letztlich sei das auch eine Frage des Geldes, meint von Dassel: »Wie viele öffentliche Mittel wollen wir dafür aufwenden, dass Männer billig Sex haben können?«
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