Geschichte von gestern

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Als es noch eine Zukunft gab, lohnte es sich zuweilen, gut gelaunt zurückzublicken. Der Idealist wollte daraus etwas lernen, Fehler nicht wiederholen und so. Der Konsument wollte sich versichern, dass er besser ist als seine Vorfahren; sich gruselnd über die Sünden der Vergangenheit im Glauben bleiben, dass jetzt alles gut ist oder zumindest zunehmend besser wird - weswegen »zunehmend« zum inflationären Dummwort wurde. Was soll man aber jetzt, da es Zukunft nur noch in Varianten des Weltuntergangs gibt, die einzigen Optimisten nur noch die sind, die sich vage von der Technik Lösungen versprechen, die die Katastrophe produziert, und also lächerlich sind, was soll man jetzt mit all den Geschichtsheftchen anfangen, von denen Bahnhofskioske lebten?

Wozu soll man noch »G-Geschichte«, »Zeit-Geschichte«, »Der Spiegel-Geschichte«, »Geschichte«, »Damals«, »P.M. History«, »Geo-Epoche«, »Geo-Epoche-Edition«, »Geo-Epoche-Panorama« oder »Geo-Epoche-Kollektion« lesen? Wie soll man all die beliebigen Themen - bei »Geo-Epoche-Kollektion« folgt auf »Deutsches Kaiserreich« etwa »Das alte Rom«, »Die großen Entdecker« und »USA 1776-1918« - zur Gegenwartsflucht weglesen, wenn man doch nur daran erinnert wird, dass alles dem Untergang geweiht ist?

Wie soll man sich noch erfreuen an den beliebigen szenischen Texteinstiegen? Blättern wir durch das Heft »Der Dreißigjährige Krieg. 1618-1648«: »Lützen bei Leipzig, Montag, 15. November 1632, früher Nachmittag. Albrecht Wenzel Eusebius von Wallenstein, Herzog von Mecklenburg, Herzog von Friedland, Fürst von Sagan, Generalissimus Seiner Majestät des Kaisers, wird bald Tausende Männer in den Tod schicken.« Solche Sätze waren mal geil doof, nun sind sie schal bis beängstigend. Wie sich erheitern an der wissenschaftlich unmöglichen präzisen Einfühlung? »Wieder und wieder blickt Johannes Heberle in den morgendlichen Himmel. Gebannt und bestürzt betrachtet er den gleißenden Schweif eines Kometen, der seit Wochen am Firmament zu sehen ist. Heberle weiß nicht, was dessen Erscheinen bedeutet. Nur dass es etwas Schreckliches sein muss, da ist er sich sicher.« Wir uns auch, Johannes Heberle, wir uns auch! Wie erstaunt sein darüber, wie oft man Texte über Historisches mit »Es ist« beginnen kann? »Es ist Mittwoch, der 17. April 1521. Viele Menschen sind vor dem Bischofshof in Worms zusammengelaufen.« Bzw.: »Es ist elf Uhr morgens, als eine Gruppe katholischer Gläubiger am 25. April 1606 von einer Prozession zu Ehren des heiligen Markus nach Donauwörth zurückkehrt.« Ist es?

Oder ist es vielleicht eine der wenigen Wohltaten des kommenden Übels, dass es einen von der Ergötzung an dem Vergangenen befreit? Vielleicht war dieser massenprintgewordene Rückblickswunsch ähnlich wie all die filmischen und seriellen Dsytopien, die global verfingen, ein Teil des Prozesses der Akzeptanz des nahenden Todes. Ist es ein Teil des Leugnens gewesen? Gewiss nicht des Zorns. Ist es ein Verhandeln? Schließlich ging es nach allen krisenreichen Epochen immer weiter, sonst wären wir ja nicht noch da. Jedenfalls sollten wir jetzt in der Depression froh sein, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen können, und uns auf den Moment freuen, in dem wir in voller Akzeptanz des Untergangs das Jetzt noch ein bisschen genießen können. Bis dann die Geschichte der Menschheit endet, bevor sie beginnen konnte.

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