- Politik
- CDU in Sachsen
Das Erbe von König Kurt
Die CDU hat sich in Sachsen lange als Staatspartei in Szene gesetzt. Die Folgen sind nun zu besichtigen.
Die Wählerinnen und Wähler im Freistaat Sachsen gelten weithin als ein mysteriöses Völkchen. »Warum ausgerechnet in Sachsen?« fragten sich die politischen Berichterstatter, als es 2004 darum ging, den Einzug der NPD in den Landtag oder das Pegida-Syndrom zu erklären. Ausgerechnet Sachsen, wo es seit Mitte der 1990er Jahre wirtschaftlich besser läuft als in den anderen östlichen Bundesländern; wo die öffentlichen Finanzen sich in einem ordentlichen Zustand befinden - so oder so ähnlich drückten Erstaunen und Ratlosigkeit sich aus. Selten nur wurde die Dynamik nicht im sozialen, ökonomischen oder kulturellen Feld gesucht, sondern im politischen Feld selbst, im Demokratieversagen einer Staatspartei.
Bei der ersten Landtagswahl 1990 errang die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten, dem West-Import Kurt Biedenkopf, mit knapp 54 Prozent die absolute Mehrheit. »König Kurt« berief sich zwecks Wiederbelebung des sächsischen Selbstbewusstseins auf die fürstlichen Traditionen und transformierte den SED-Staat in einen landesväterlich geführten CDU-Staat, der versprach, nun der bessere, fürsorgende und schützende Staat zu sein. Auf diesem sächsischen Weg solle es ordentlich voran gehen. 1994 und 1999 folgten ihm 58 Prozent beziehungsweise 57 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Unterhalb des Patrons agierten mit vergleichbarer Attitüde seine Landräte. Demokratische Wechsel waren, weil Majestätsbeleidigung, nicht gewünscht.
Nach dem nicht ganz rühmlichen Ende der Biedenkopf-Ära erlitt die Staatspartei CDU unter Georg Milbradt bei der Landtagswahl 2004 eine empfindliche Niederlage: Sie verlor über 15 Punkte und erreichte nur noch gut 41 Prozent. Bei dieser Marke landete sie auch 2009 und 2014. Von dieser Implosion des CDU-Biedenkopf-Machtblocks profitierte aber nicht die linke Opposition. Dabei liegt die Besonderheit nicht in sozialen, ökonomischen oder kulturell landsmannschaftlich verwurzelten Unterschieden Sachsens zu anderen Ländern, sondern im Politischen selbst.
Bei Landtagswahlen erreichten SPD, Linkspartei und Grüne zusammen seit 1990 konstant 35 bis 37 Prozent, gleich, ob die Wahlbeteiligung bei 73 Prozent lag, wie 1990, oder bei nur 49 Prozent wie 2014. Lediglich die Gewichte verschoben sich. Dominierte anfänglich die SPD, so ist es seit 1999 die PDS/Linkspartei mit um die 20 Prozent. Die Verhältnisse scheinen in Stein gemeißelt: Die linke Opposition kann gegen die CDU nicht auf die Regierungsbank in Dresden.
Eigensinnige Wähler
Wie in anderen Ländern auch, sind die Wählerinnen und Wähler in Sachsen allerdings recht eigensinnig und unberechenbar: Bereits bei der Bundestagswahl 1994 kamen die drei Mitte-Links-Parteien zusammen auf knapp 46 Prozent, in den drei folgenden Bundestagswahlen bis zum Jahr 2005 erreichten sie sogar 52 bis über 54 Prozent. Danach sank ihr Stimmenanteil, 2017 erreichten sie nur noch 31 Prozent.
Die CDU erreichte bei Bundestagswahlen in Sachsen von 1998 bis 2009 nur jeweils etwa ein Drittel der Stimmen - und fast gleichzeitig erzielte Biedenkopf bei der Landtagswahl 1999 stolze 57 Prozent! Vor solchen Wählerkalkülen blamieren sich alle Versuche, Kausalketten zwischen dem Wahlverhalten und der sozialen Lage, der sozio-ökonomischen Entwicklung oder sozialem Status herzustellen. Solche Wechsel sind nicht auf eingrenzbare soziale Gruppen beschränkt.
Dass in Sachsen keine linken Mehrheiten möglich waren, hat viel mit der Rolle der CDU als Staatspartei zu tun, die sich in massiver Abgrenzung zu SED/PDS/Linkspartei als die bessere, freundlichere, fürsorgende und schützende Variante der Staatsfixierung in Szene setzte. In der Dämmerung der Biedenkopf-Ära und der Frühzeit der Milbradt-Regierung, diesem historischen Zeitfenster, in dem die Stimmung nach links hätte kippen können, gelang es nicht, eine ernsthafte linke Alternative für die Landesregierung zu schmieden, obwohl das Potenzial theoretisch - siehe Bundestagswahlen - vorhanden gewesen wäre. Es kann dahin gestellt bleiben, ob da eher eigenes Unvermögen den Ausschlag gab oder die mehrheitliche Haltung der Sachsen, dass ihr Freistaat nicht in linke Hände fallen dürfe.
Denn 2004 begann, was in dieser Form in keinem anderen Land der Republik stattfand und die Rede von »sächsischen Verhältnissen« rechtfertigen könnte: Der Zerfall einer konservativen absoluten Regierungsmacht nach rechts. Mit knapp zehn Prozent zog damals die NPD in den Landtag ein, erreichte in der sächsischen Schweiz und Ostsachsen sowie unter jungen Wählern - und Wählerinnen - überdurchschnittliche Werte. 2009 konnte sie wieder in den Landtag einziehen.
Vor vier Jahren wurde sie von der AfD abgelöst, die 2019 nach der Macht, zumindest der Rolle als »stärkste Partei« greift.
Für diese Erosion nach rechts lassen sich zwei Dynamiken anführen. Erstens hielt die CDU von Biedenkopf bis Tillich an der schicken Fassade fest, wonach es in Sachsen kein wirkliches Rechtsextremismus-Problem gebe. Was neben der öffentlichen Meinung als nicht-öffentliche Meinung - quasi als Parallelwährung wie mancherorts Euro neben der offiziellen Landeswährung - in Nachbarschaften, Vereinen und Clubs kursierte, wurde in den Skat gedrückt. Erziehung zur Demokratie und gelebte Demokratie wurden geringgeschätzt sowie aus Haushaltsplänen und von Lehrplänen gestrichen. Stattdessen glaubte man, dass der wirtschaftliche Erfolg wie früher im Westen von selbst Demokraten hervorbringen und vorhandene autoritäre, antidemokratische, auch menschenverachtende Einstellungen politisch im Zaum halten würde.
Zweitens betrachtete die CDU die Abwanderung aus der Provinz in die Städte beziehungsweise in andere Bundesländer als naturwüchsige Marktbewegung, der sie mit dem Rückbau der öffentlichen Infrastruktur folgte. In den Augen derjenigen, die in Orten, »aus denen man weggeht«, verblieben, wandte der fürsorgliche Staat sich ab und zog seine schützenden Hände zurück. In den verbliebenen zivilgesellschaftlichen Strukturen reüssierten, zuweilen mangels Alternativen, die meinungs- und organisationsstarken Rechtskonservativen und Nationalen.
Wertschätzung und Missachtung
Schaut man auf die sozialen Merkmale der AfD-Wählerschaft in Sachsen, so unterscheiden sie sich nicht von denen anderer Länder. Die AfD versammelt ein vertikales, soziale Schichten und Klassen übergreifendes Bündnis von Menschen, die sich in der ihnen zustehenden Wertschätzung, Rolle und sozialen Position bedroht und missachtet sehen. In autoritärer und nationalistischer Politik suchen sie ihr Unbehagen gegenüber den Konsequenzen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu beruhigen. Dass sich unter den Wahlberechtigten mit einer einfachen und mittleren Bildung ein überdurchschnittlicher Anteil dorthin gezogen fühlt, verweist auf eine Quelle der rechten Dynamik und Leerstelle bei anderen Parteien: Auf welche soziale und kulturelle Wertschätzung können in der vielbeschworenen Wissensökonomie diejenigen zählen, deren Platz in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nicht in deren »kreativen« Zentren ist oder die aus welchen Gründen auch immer weniger »gebildet« sind?
Für sie taugt die Glitzerwelt vom innovativen Sachsen nicht einmal als Sehnsuchtsort. Und die Mitte-Links-Parteien haben bislang keinen überzeugenden gesellschaftlichen Entwurf, in dem sie einen angemessenen Platz für sich sehen.
Horst Kahrs, Jahrgang 1956, ist Sozialwissenschaftler und arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg- Stiftung. Seine Schwerpunkte: Demokratie und Wahlen, Klassen und Sozialstruktur.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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