»Hier lag der kranke Schwan«

Schweizer Zeigebilder, befreit aus dem Korsett gedruckter Seiten in Tageszeitungen

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Menschen, lautete ein unmissverständliches Diktum meiner Mutter, auf das sich schlechthin nichts erwidern ließ. Verweist doch das Demonstrative zumeist auf Naheliegendes, tendiert zur Denunziation. Also besser nicht auf Menschen zeigen, sie dadurch hervorheben. Aber auf Plätze, Orte, gar Tatorte?

Dass das Hinweisende seinen Rang zumindest als fotografisch gestellte Geste im Blätterwald behauptet hat, zeigt die hinreichend amüsante, zudem durch jedes Fundstück neu überraschende Sammlung von Beatrice Minger mit dem bezeichnenden Titel »Hier sass er.«, erschienen in der Edition Patrick Frey in Zürich. Und in dieser gelten die Fingerzeige, manchmal verlängert durch einen Stock, dem zeitlich Naheliegenden, werden vertraute Umgebungen durch Unterschriften zu Orten des Geschehenen aufgewertet, wird Authentizität generiert. Arm und Finger der Kellnerin ausgestreckt wie ein Pfeil, den Betrachter auf einen leeren Stuhl im Schankraum verweisend. Jedes einzelne Foto samt dazugehöriger Legende beansprucht Beweiskraft, will den Leser durch Augenscheinnahme gewinnen. »Hier von der Treppe aus sah ich den einen Gauner. Leider nur die Füsse.« War es wirklich so? Deutungshoheit sieht anders aus. Und nicht immer wird das Bedeutete in seiner Hervorhebung bedeutsam.

Beatrice Minger (geb. 1980) lebt als Filmemacherin in Zürich und legt zunächst einmal eine veritable Fleißarbeit vor: 118 Zeigebilder mit ihren Bildlegenden von 2000 bis 2016, assembliert in einer thematischen und visuellen Montage. Sie beginnt während eines Teilzeitjobs. Als Studentin sichtet sie für den internen Medienspiegel sämtliche Schweizer Tageszeitungen.

Wie Dornröschen im Märchen aus Stroh Gold spinnt, so energetisiert Minger gleißenden Tages-Trash zu luminosen Kostbarkeiten, und zwar einzig dadurch, dass sie ihre Fundstücke aus dem Korsett der Druckseite ausschneidet und in den Kontext ihres künstlerischen Konzepts stellt. Aus der präzis kalkulierten Abfolge sämtlicher Blätter entsteht ein buntes Kaleidoskop, das intensive Einsichten gewährt.

»›Ein gefährlicher Lausbubenstreich.‹ Alfred Müller zeigt auf drei der vier Baulampen in seinem Garten.« Durch die Gegenüberstellung zu einer anderen Bild-Text-Kombination etwa wird deutlich, wo die Harmlosigkeit einer pubertären Verirrung unmissverständlich endet: »Kein Lausbubenstreich. Bauer Eddy Brunner zeigt, wo ein Projektil ins Euter eingedrungen ist.« Das tut schon beim Lesen weh und kann deshalb kaum toleriert werden. Andererseits tragen manche Konstrukte eher zur Verharmlosung bei: »Der Sechstklässler zeigt auf die Stelle am Fluss, wo der Kameruner ertrunken ist.« Das Bild zeigt den ruhig fließenden Fluss. Der Betrachter wird zum Unglücksort geführt, erfährt aber nichts von den Umständen des schrecklichen Vorgangs. »›Ich hatte bereits abgeschlossen.‹« Ein Einheimischer hat mehr Glück gehabt: »A. zeigt auf die Stelle, wo er beinahe ertrunken wäre.«

Die Geste des Zeigens setzt einen Fokus im Bild, strukturiert es, beruhigt. Mit dem emotionalen Gehalt des jeweiligen Gesichtsausdrucks verspricht sie Sinn, der mit der dazugehörigen Textzeile dechiffriert wird. Selbst da, wo nichts zu sehen ist. »Hier lag der kranke Schwan.« Der Betrachter ist erstaunt, welche Ereignisse auf diese Art bedeutsam werden. Ein genialer Einfall. Kleine und große Katastrophen, unerhörte Ereignisse, sagenhafte Funde, tragische Zufälle und gewissenhafte Aufklärungen. In hübscher Eindeutigkeit. »Gabriela Bucher zeigt, wo ihre tote Katze gefunden wurde.« Auf dem Bahnkörper. Auf diesen deutend steht sie irgendwie ratlos daneben. Daran hätte auch meine Mutter Gefallen gefunden.

Beatrice Minger: Hier sass er. Edition Patrick Frey, 370 S., 48 €

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