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Kein günstiges Umfeld für Experimente
Matthias Micus hält nicht viel von der Idee, Minderheitenregierungen in Bund und Ländern zu bilden
Beginnen wir mit einer Binsenweisheit. Die Volksparteien CDU und SPD verlieren seit Jahrzehnten Mitglieder und ebenso lange auch Wähler. Lagen die gemeinsamen Stimmenanteile von Unionsparteien und SPD bei den Bundestagswahlen der 1970er Jahre bei gut 90 Prozent der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung knapp oberhalb von ebenfalls 90 Prozent, erreichten sie seinerzeit mithin mehr als 81 Prozent aller Wahlberechtigten. Dieser Wert ist bei der Bundestagswahl 2017 auf kümmerliche 33 Prozent geschrumpft.
Eine Folge dieses Dominanzverlustes der Volksparteien, ihrer schwindenden Verwurzelung in vielfältigen gesellschaftlichen Lebenswelten und verminderten Bindungskraft ist die Ausdifferenzierung des Parteiensystems. Aus dem altbundesrepublikanischen Standard von drei Bundestagsparteien sind mit CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, LINKE und Grünen mittlerweile sechs geworden. Ob dies das Ende der Fahnenstange ist, kann niemand sagen. Der Blick etwa in die Niederlande zeigt aber, dass die Grenze nach oben durchaus noch nicht erreicht sein muss. Schon jetzt folgt daraus für die Regierungsbildung, dass die klassischen Mehrheitskoalition aus einer Volkspartei und einem kleineren Partner zunehmend unwahrscheinlich werden und durch andere Bündnisoptionen ersetzt, zumindest aber ergänzt werden müssen. Insofern hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) zweifellos recht, wenn er für die Zukunft von einer Zunahme bisher ungewohnter Regierungsformate ausgeht, wie er das zuletzt in einem Interview mit dem »Redaktionsnetzwerk Deutschland« geäußert hat. Zweifelhaft erscheint dagegen, ob seine Hoffnungen in Minderheitsregierung und die damit verbundene Annahme, sie seien eine »zeitgemäße politische Idee«, da der »Abstand zwischen den Parteien« immer »geringer« werde, plausibel sind.
Der Aussage, dass die Differenzen abnähmen, welche die sozialen Gruppen und politischen Lager trennen, lässt sich mit Blick auf die sozialwissenschaftliche Forschung widersprechen. So kommt die Studie »Was verbindet, was trennt die Deutschen« von »Policy matters« aus dem Jahr 2018 zu dem Ergebnis, dass sich die deutsche Gesellschaft entlang der von der Autorin und dem Autor als »neu« deklarierten Konfliktlinie rund um die Themen Flucht und Migration »polarisiert«. Insbesondere die gesellschaftliche Mitte, im öffentlichen Diskurs gerne als die Garantin des sozialen Zusammenhalts schlechthin besungen, zerfalle. Unzufriedenheit, Verunsicherung und Abschottung machten sich breit und schüfen ein Klima, in dem Tendenzen der sozialen Vereinzelung durch Bekenntnisse zu »Nationalstolz« und »Recht und Ordnung« kompensiert würden.
Bezeichnenderweise gehen die sozialen Spaltungstendenzen zudem einher mit einer Konjunktur der Identitätspolitik, wie sie insbesondere die Rechten von Trump über Salvini bis Höcke betreiben. Identitätsfragen aber berühren den Einzelnen existenziell, sie betreffen die ganze Person und lassen sich deshalb kaum zum Ausgleich bringen - im Unterschied zu Interessen nach höherem Einkommen, billigerem Wohnraum und besserer Infrastruktur. Ein derartiges Umfeld ist für Minderheitsregierungen denkbar ungünstig.
Als Kollateralnutzen von Minderheitsregierungen wird gerne aufgeführt, dass sie die Parlamentsdebatten belebten, die in den vergangenen Jahren vernachlässigten Zwänge zur Diskussion, Begründung und Erklärung politischen Handelns verstärkten und die Politik wieder spannender und lebendiger machten. Dazu aber braucht es eine ausgleichende politische Kultur, wechselseitige Verständigungsbereitschaft über die politischen Lagergrenzen hinweg und einen pragmatischen Sinn für konkrete Verbesserungen.
Aber selbst in Skandinavien, auch von Ramelow wieder als Vorbildregion genannt, funktionierten Minderheitsregierungen unter den Bedingungen einer rechtspopulistischen Partei im Parlament, die von den politischen Entscheidungen fernzuhalten die etablierten Parteien einig waren - das wäre auch die Situation in Deutschland in den nächsten Jahren - zuletzt nur dadurch, dass sich die Oppositionsparteien bei wichtigen Fragen enthielten, denen die Minderheitsregierung zustimmte und welche die Rechtspartei ablehnte. Ein Zwang zur Enthaltung aber dürfte das Image der etablierten Parteien und Politiker als ignorante, opportunistische und selbstbereichernde Eliten nur noch bestätigen.
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